Die Stadt Stuttgart lehnt eine Gedenktafel am Bürgerhospital ab, wo zwischen 1943 und 1945 vermutlich bis zu 52 behinderte Kinder ermordet worden sind. Sie erhielten eine Überdosis eines Betäubungsmittels.

Klima/Nachhaltigkeit : Thomas Faltin (fal)

Stuttgart - Dort, wo heute das sozialpsychiatrische Behandlungszentrum des Bürgerhospitals untergebracht ist, war früher das Stuttgarter Kinderkrankenhaus. Das Gebäude Türlenstraße 22 birgt womöglich ein grausiges Geheimnis: In der Zeit des Nationalsozialismus könnten dort bis zu 52 behinderte Kinder mit dem Medikament Luminal totgespritzt worden sein. Der Arbeitskreis „Euthanasie“, der Teil der Stuttgarter Stolpersteine ist, möchte deshalb gerne vor dem Haus eine Gedenktafel aufstellen. Das aber lehnt der zuständige Bürgermeister Werner Wölfle (Grüne) ab, nachdem er anderthalb Jahre zur Beantwortung der Anfrage brauchte. Es gebe zwar starke Indizien für die frühere Existenz dieser „Kinderfachabteilung“, aber es lägen keine Beweise vor.

 

Tatsächlich sind sich nicht alle Historiker einig. Vor allem der Autor Rolf Königstein hat in zwei Aufsätzen Zweifel vorgetragen. Er stützt sich dabei vor allem auf die Aussagen der beiden betroffenen Ärzte Karl Lempp und Margarete Schütte, die nach dem Krieg in einem Spruchkammer- und in einem Ermittlungsverfahren betont haben, dass es keine Verbrechen in der Kinderklinik gegeben habe. Viele Historiker halten solche Aussagen aber nicht für sehr belastbar.

Dagegen ist sich Karl-Horst Marquart, Stuttgarter Arzt und Euthanasie-Forscher, nach der Auswertung aller Totenscheine sicher, dass es auch in Stuttgart solche Ermordungen gegeben hat. Er ermittelte für die Zeit zwischen Januar 1943 und April 1945 insgesamt 52 Todesfälle von behinderten Kindern; ein Drittel starb angeblich an einer Lungenentzündung. Diese Häufung könne nicht zufällig sein, so Marquart: „Überdosierte Luminalgabe verursacht einen Dämmerschlaf mit nachfolgender Lungenentzündung.“

Die Bestellung von Luminal kann nachgewiesen werden

Ein zentrales Indiz ist die nachgewiesene Bestellung von Luminal bei einem Reichsausschuss in Berlin, der die Ermordung der behinderten Kinder zentral organisierte (siehe „Die organisierte Ermordung“). Die damalige Ärztin Schütte rechtfertigte diese Bestellung später damit, auf diese Weise günstig Luminal für die Beruhigung der Kinder erhalten zu haben.

Der Euthanasie-Forscher Marquart recherchierte zudem Einzelschicksale, wie das der dreijährigen Gerda Metzger: Das geistig leicht behinderte Mädchen kam 1943 in die Klinik, obwohl es gesund war. Am nächsten Tag war es tot. Die Mutter, die erst nach heftigem Protest überhaupt zu ihrem Kind durfte, fand es nicht mehr ansprechbar vor. Sie konnte über den Verlust ihres Kindes nie sprechen und erzählte erst kurz vor ihrem Tod einem Vertrauten davon. Bald erscheinen Marquarts Recherchen als Buch mit dem Titel: „Behandlung empfohlen – NS-Medizinverbrechen an Kindern und Jugendlichen in Stuttgart“.

Bürgermeister Wölfle hat, bevor er seinen Brief verschickt hat, den Stadtarchivar Roland Müller um eine Stellungnahme gebeten. Müller führt darin aus, dass die Quellenlage schlecht sei und viele Fragen offenblieben – aber auch er vertritt letztlich die Ansicht, dass es „starke Indizien“ für die Existenz der „Kinderfachabteilung“ gebe.

Auf die Antwort musste der Arbeitskreis 20 Monate warten

Der Kulturwissenschaftler Martin Rexer vom Arbeitskreis „Euthanasie“ ist über die Absage Wölfles verärgert: „Es ist ein Unding, dass wir anderthalb Jahre lang auf eine Antwort warten mussten.“ Auch inhaltlich sei der Brief nicht zu rechtfertigen: „Es ist nachgewiesen, dass es in Stuttgart eine ‚Kinderfachabteilung‘ gab. Es ist klar, was das bedeutete.“ Zudem hätten Stadt und Arbeitskreis bei einer gemeinsamen Ausstellung Ende 2013 über medizinische Verbrechen an Kindern im Nationalsozialismus vereinbart, das Thema weiter zu bearbeiten. Die Gedenktafel sei nur ein Vorschlag gewesen; man habe auch die Gründung einer „Arbeitsgruppe NS-Medizin in Stuttgart“ angeregt.

Bürgermeister Wölfle betont, dass er gern an dem Thema weiterarbeite. Ihm sei es aber lieber, dieses „auch nach vorne zu drehen“. Es gebe viele aktuelle Anknüpfungspunkte, zum Beispiel die Debatte über den Schutz ungeborenen Lebens. Daneben sagt Wölfle, dass eine Tafel am Gebäude ihn noch aus einem anderen Grund „nicht begeistere“: Täglich würden Menschen das Schild sehen, die dort in eine Behandlung gehen. Das erhöhe unnötigerweise deren eventuelle Beklemmung.