Vor 70 Jahren,am 19. Oktober 1945, machte die Evangelische Kirche einen Neuanfang mit dem Stuttgarter Schuldbekenntnis. Doch kirchenintern waren die Aussagen nicht unumstritten.

Lokales: Mathias Bury (ury)

Stuttgart - Die Markuskirche im Süden ist bekanntlich nicht die Hauptkirche der evangelischen Christen in Stuttgart. Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg befand sich der imposante Jugendstilbau an der Filderstraße aber plötzlich in dieser Rolle. Bei der Entstehung des Stuttgarter Schuldbekenntnisses, mit dem die neu gebildete Evangelische Kirche in Deutschland erstmals eine Mitschuld an den Verbrechen des Nationalsozialismus eingestand, erlebte das Gotteshaus den größten Augenblick seiner Geschichte.

 

Es war der 17. Oktober 1945, die Stadt und mit ihr die Kirchen lagen in Trümmern. Am folgenden Tag wollte sich der Rat der Evangelischen Kirche in Stuttgart zu seiner ersten ordentlichen Sitzung treffen, unter der Leitung des Württembergischen Landesbischofs Theophil Wurm. Und erstmals nach der Weltkriegskatastrophe waren hochrangige Vertreter der evangelischen Ökumene aus den USA, den Niederlanden, Frankreich und der Schweiz zu einem Besuch in Deutschland.

An jenem Herbstabend trafen diese beiden Gruppen in der Markuskirche bei einer Abendfeier zusammen. Ausgewählt hatte man das Gotteshaus, weil es anders als die anderen großen Kirchen der Stadt im Krieg nur leicht beschädigt worden war und so kurz nach dem Ende der NS-Herrschaft schon wieder genutzt werden konnte.

Innerkirchliche Debatte

Seit einiger Zeit war in der evangelischen Kirche eine Debatte über die eigene Rolle im Nationalsozialismus im Gange, in der die Positionen teils hart aufeinandertrafen. Klar aber war: Die ökumenischen Glaubensbrüder waren zu einer Versöhnung bereit, doch nur unter der Voraussetzung eines Schuldeingeständnisse.

In dieser Atmosphäre hielt der Pastor Martin Niemöller, der im Konzentrationslager Sachsenhausen gesessen hatte, an jenem Abend eine Predigt über den Propheten Jeremia, in der es um Schuld und Sühne ging. „Das Nichtstun, das Nichtreden, das Nicht-Verantwortlich-Fühlen, das ist die Schuld des Christentums“, zitierte die Stuttgarter Zeitung Niemöller, der seine Predigt spontan hielt, er war erst kurz zuvor in Stuttgart angekommen und hatte da erfahren, dass er in der Markuskirche zu den Gläubigen sprechen sollte. „Niemöller hat den Leuten tief ins Gewissen geredet“, sagt Tilo Knapp, der Pfarrer der Markusgemeinde, über das denkwürdige Ereignis.

Predigt stieß nicht auf ungeteilte Zustimmung

„Es war eine machtvolle Predigt“, erinnerte sich Willem Visser’t Hooft später in seiner Biografie. „Niemöller sagte, es genüge nicht, den Nazis die Schuld zu geben, auch die Kirche müsse ihre Schuld bekennen“, schrieb der niederländische Leiter der ökumenischen Delegation. Doch so beeindruckend die Predigt für viele der Anwesenden gewesen sein mochte, sie stieß keineswegs auf ungeteilte Zustimmung. So legte der Berliner Bischof Otto Dibelius wert darauf, dass in einer Erklärung „auch die Ungerechtigkeiten der Alliierten angesprochen werden“, erklärt Tilo Knapp. Der Stuttgarter Prälat Karl Hartenstein verlangte bei einer Parallelveranstaltung am selben Abend im Saal des Furtbachkrankenhauses ein ökumenisches Bekenntnis der Schuld , weil eine solche „auch auf den Völkern der Siegermächte lastet“.

Von Martin Niemöllers Predigt inspiriert, mitgeprägt von dessen Mitstreiter, dem lutherischen Theologen Hans Asmussen, beeinflusst aber auch von Otto Dibelius entstand am folgenden Tag jene Stuttgarter Schulderklärung, die am 19. Oktober 1945 vor den Vertretern der Ökumene abgelegt und diesen als Kopie übergeben wurde. Dies fand allerdings nicht in der Markuskirche selbst statt, wie immer wieder behauptet wird, sondern wahrscheinlich im Haus Eugenstraße 22, das von der Stiftskirchengemeinde genutzt wurde. Die Erklärung enthielt auch einen Satz, den der aus NS-Haft entlassene Pastor gegen den Bischof aus Berlin durchgesetzt hatte: „Durch uns ist unendliches Leid über viele Länder und Völker gebracht worden.“ Das klang stark nach Kollektivschuld, was Kirchenvertreter wie Otto Dibelius auf jeden Fall hatten vermeiden wollen.

Die Erklärung als Schritt aus der Isolation

„Das war ein Durchbruch, ein Türöffner“, sagt Pfarrer Tilo Knapp über die Wirkung der Schulderklärung. Damit habe die EKD politische Verantwortung übernommen, sich durch den Brückenschlag zur internationalen Ökumene aus ihrer Isolation befreit und „Entschlossenheit zu einem Neuanfang“ demonstriert.

Es zeigte sich freilich, wie vorausschauend Niemöller war, als er eine Formulierung in dem Text änderte, die von seinem Widerpart Otto Dibelius stammte. Der hatte in seiner Bearbeitung geschrieben: „Nun ist in unserer Kirche ein neuer Anfang gemacht worden.“ Niemöller machte aus dem „ist“ ein „soll“. Der Gang der Dinge gab ihm recht. Nachdem nicht die Kirchenleitung, sondern zwei Zeitungen die Erklärung Ende Oktober unter dem Titel „Evangelische Kirche bekennt Deutschlands Kriegsschuld“ veröffentlicht hatten, brach in der deutschen Öffentlichkeit ein Sturm der Entrüstung los. Und der von Pastor Niemöller eingefügte Kernsatz blieb auch bei konservativen evangelischen Christen noch lange umstritten.