Der frühere Arcandor-Chef hat seinen Arbeitgeber nach Ansicht des Gerichts um rund 500 000 Euro geschädigt. So flog Middelhoff öfter auf Firmenkosten mit dem Hubschrauber ins Büro, obwohl er einen Dienstwagen mit Fahrer hatte.

Essen - Die Uhr über dem Eingang zu Saal 101 im Landgericht Essen ist auf zwölf Uhr stehengeblieben: High Noon, Stunde der Entscheidung. Der Angeklagte Thomas Middelhoff kommt um kurz nach neun Uhr morgens, schwungvoll, wie immer perfekt gekleidet, im dunkelblauen Anzug mit eleganter Krawatte, Manschettenknöpfen am weißen Hemd und sogar mit neuer Uhr – obwohl im eine Gerichtsvollzieherin seine alte bei einem früheren Termin im Gericht gepfändet hatte. Etliche Gläubiger fordern von Middelhoff Zahlungen in Millionenhöhe.

 

Was er heute erwarte, wird der Ex-Manager gefragt. Kurz hält er inne, dreht sich um, zögert als wolle er eine Erklärung abgeben, sagt dann aber nur „kein Kommentar“ und eilt in den Saal. Minutenlang stellt er sich den Fotografen, bleibt hinter den Stühlen der Anklagebank stehen, rechts und links von seinen beiden Anwälten flankiert. Noch lächelt er. Dann betreten Richter und Schöffen den Saal. Was Jörg Schmitt, der Vorsitzende Richter, nun verkündet, muss ein Schock für Middelhoff sein: Drei Jahre Haft wegen Untreue und Steuerhinterziehung. Zwei Stunden lang begründet der Richter das Urteil. Und dann kommt es noch schlimmer: Er kündigt für den früheren Arcandor-Chef einen Haftbefehl an. Begründung: Fluchtgefahr. Middelhoff hat seinen Hauptwohnsitz in Frankreich.

Spektakulärer Sprung aus dem Fenster

Im Laufe des Prozesses hatte der 61-Jährige öfter für Schlagzeilen gesorgt. So sprang er im Juli nach einem Besuch beim Gerichtsvollzieher aus dem Fenster und flüchtete über ein Garagendach vor den wartenden Journalisten. Beim Mittagessen zeigte sich Middelhoff dagegen bodenständig: an den Prozesstagen speiste er in der Regel in der Gerichtskantine.

Mit der Arcandor-Insolvenz habe der Prozess in Essen nichts zu tun, sagt Richter Schmitt, aber ohne diese Pleite hätte es wohl keinen Prozess gegeben. Erst mit dem Ende des Konzerns nach Middelhoffs Abgang, war in verschiedenen Gerichtsverfahren herausgekommen, was ihn nun hinter Gitter bringen soll. Er hatte private Flüge auf Firmenkosten abgerechnet, war im Charterflugzeug nach New York und an andere Orte geflogen, ohne dass er dort Geschäfte für Arcandor zu erledigen gehabt hätte, hatte sich im Hubschrauber zwischen seiner Villa in Bielefeld und der Essener Konzernzentrale hin- und herfliegen lassen, obwohl ihm ein Dienstwagen mit Fahrer und eine Dienstwohnung zustanden.

Der schwerwiegendste Rechtsverstoß war eine Festschrift, die er für seinen ehemaligen Mentor, den früheren Bertelsmann-Chef Mark Wössner, in Auftrag gegeben hatte. Es sollte ein Buch „in Copy-Shop-Qualität“ werden, gab Middelhoff vor Gericht an. Am Ende kam samt einem Symposium eine üppige Rechnung über rund 180 000 Euro zusammen, die er von Arcandor bezahlen lassen wollte. Dieses Projekt sei ihm wohl aus den Händen geglitten, kommentierte Richter Schmitt. Als die Buchhaltung von Arcandor feststellte, dass die Rechnung auf Middelhoff persönlich ausgestellt war, ließ er sie umschreiben. So habe er noch unbeteiligte Personen in die Sache mit hineingezogen, sagte Schmitt, und wertete das als strafverschärfend. Allein für dieses Vergehen hatten die Staatsanwälte zwei Jahre und drei Monate Haft gefordert. Insgesamt plädierten die Ankläger auf drei Jahre und drei Monate. Maßlos und skandalös sei das, meinten Middelhoffs Anwälte. Er selbst hatte in seinem Schlusswort gesagt, er habe sich korrekt verhalten.

Für die Flüge legte Middelhoff dem Gericht eine schriftliche Erklärung von Hero Brahms vor, dem früheren Aufsichtsratschef von Karstadt-Quelle. So hieß Arcandor, bevor Middelhoff dem Konzern einen neuen Kunstnamen verpasste. Brahms versichert darin, der Ständige Ausschuss des Kontrollgremiums habe beschlossen, dass Middelhoff für Dienstreisen uneingeschränkt Charterflugzeuge nutzen dürfe. Das sei eine Lüge gewesen, stellte der Richter fest, und Middelhoff habe sie mitgetragen, weil er das Schreiben genehmigt habe. In anderen Fällen habe er sich in seinen Einlassungen vor Gericht widersprochen.

Der Schaden für Arcandor liegt bei 500 000 Euro

Akribisch erläutert Schmitt alle verhandelten Fälle, begründet, warum die meisten Flüge keine Dienstreisen gewesen seien, sondern Heimflüge zur Familie oder Reisen wegen seiner Nebentätigkeiten in verschiedenen Aufsichtsräten anderer Unternehmen, die Middelhoff selbst zu bezahlen gehabt hätte. Bei einigen Flügen sieht das Gericht dagegen keine Verfehlungen. So wird ein Flug in seine Ferienvilla in Saint Tropez unter anderem deshalb als Dienstreise angesehen, weil dort im Kreise des Vorstands bei einem Glas Wein auch über den Abbau von 4000 Stellen bei Neckermann gesprochen worden sei, einem der Unternehmen, die damals zu Arcandor gehörten. Andere Fälle sind schon vorher abgetrennt worden, um das Verfahren nicht unnötig zu verzögern. Es hätten Zeugen aus dem Ausland geladen werden müssen. Nach Abzug ersparter Kosten kommt das Gericht in 27 Fällen auf einen Schaden für Arcandor von etwa 500 000 Euro. Anfangs war es um den doppelten Betrag gegangen. Hinzu kommen rund 26 000 Euro hinterzogene Steuern.

Als Gesamtstrafe verkündet Richter Schmitt eine Haft von drei Jahren, die nicht zur Bewährung ausgesetzt werden kann. Das sei der Tat und der Schuld angemessen, auch im Vergleich zu anderen Verfahren, findet er. Sein bisher straffreies Leben rechnet er Middelhoff mildernd an – und auch die psychischen Belastungen, die er und seine Familie durch die Berichterstattung der Medien erlitten hätten. Seine Erklärungen vor Gericht seien aber nicht ehrlich, sondern taktisch geleitet gewesen so Schmitt. Anders habe er sich die vielen Widersprüche in Middelhoffs Aussagen nicht erklären können. Dann schließt er die Öffentlichkeit aus, um zu prüfen, ob Middelhoff sofort in Untersuchungshaft genommen werden muss, oder ob der Haftbefehl gegen Auflagen ausgesetzt werden kann. Nach zwei Stunden wird die Haftprüfung für eine Stunde unterbrochen. Erst um 15 Uhr ist dann klar: Middelhoff ist kein freier Mann mehr. Er wird aus dem Gerichtsgebäude direkt in ein Gefängnis gebracht. Für die nächste Woche ist ein neuer Haftprüfungstermin angesetzt.