Horst Köhler, ehemaliger Bundespräsident, macht eine Stippvisite bei einer besonderen Orgel in Ludwigsburg – und erinnert sich an seine Jugend. Köhler lebte in der Barockstadt jahrelang in einer zum Flüchtlingsheim umfunktionierten Kaserne.

Ludwigsburg: Susanne Mathes (mat)

So richtig dazu geschaffen, den Ernst der Lage zu demonstrieren, ist das klangsatte, raumfüllende Brausen nicht, das Bezirkskantor Martin Kaleschke aus der Walcker-Orgel in der Friedenskirche herauskitzelt. Er sitzt auf der Empore und zieht im wahrsten Wortsinn alle Register. Horst Köhler, der unten im Kirchenraum steht und dem Privatvorspiel mit in den Nacken gelegtem Kopf und anerkennendem Blick nach oben lauscht, applaudiert dann und sagt: „Also, man merkt gar nicht, dass sie restauriert werden muss.“

 

Das allerdings, so erfährt der frühere Bundespräsident schnell, liegt nicht daran, dass alles vielleicht doch gar nicht so schlimm ist. Es ist nur der Tatsache zu verdanken, dass Martin Kaleschke und sein Kantorenkollege Fabian Wöhrle mit den Unzulänglichkeiten der Orgel umzugehen wissen und Kalamitäten zu kaschieren verstehen, denn in Wirklichkeit verweigern immer mehr Pfeifen ihren Dienst. Weil Kaschieren aber nicht zukunftsträchtig ist, hat sich ein Verein zur Erhaltung des besonderen Kulturdenkmals gegründet und treibt seither findig Spenden ein, damit wieder hergestellt werden kann, was „Krieg, Zeit und mutwillige Entscheidungen“ (Kaleschke) zunichte machten. Warum das so wichtig ist? Die Orgel sei die einzige noch derart unveränderte hochromantische Walcker-Orgel dieser Größe in ganz Süddeutschland, schwärmt Kaleschke. Der Ludwigsburger Orgelbauer sei ein „Super-Nerd gewesen, der die besten Orgeln der Welt herstellen wollte“.

Fast 200 000 Euro hat der Verein für die Restaurierung bisher zusammen, es fehlen noch rund 500 000. „Wenn wir die Hälfte der Mittel haben, können wir mit der Auftragsvergabe beginnen“, sagt Fördervereins-Vorsitzender Konrad Seigfried.

Horst Köhler hat sich von dem Verein als Schirmherr für die Sanierung akquirieren lassen. Er ist bewegt, als er am Donnerstag erstmals in dieser Funktion seinem „Schützling“ eine Visite abstattet. „Ich bin hier nicht aus Pflichtschuldigkeit. Ich habe mein Herz ein bisschen an diese Kirche verloren“, sagt der 80-Jährige und lacht, als ihm Martin Kaleschke mit einem „Schenk’ ich Ihnen!“ einen kleinen Orgel-Blasebalg in die Hand drückt. „Dass es mit den Spenden bislang besser läuft, als wir zu hoffen gewagt hatten, ist Ihrem Namen zu verdanken“, versichert Konrad Seigfried dem Alt-Präsidenten.

Köhler war mit seiner Familie als Flüchtlingskind 1953 nach Ludwigsburg gekommen. Jahrelang lebten die Köhlers in der zur Flüchtlingsunterkunft umfunktionierten Jägerhofkaserne, bevor die Familie eine Dreizimmerwohnung in der Weststadt zugeteilt bekam. Die Friedenskirche war also nicht ihre Stammkirche. Aber an hohen Feiertagen sei er als Junge mit seiner Mutter in dem riesigen Gotteshaus gewesen, erzählt Köhler, als er sich mit Vereinsmitgliedern, Musikern und seinen Personenschützern um den Spieltisch der Orgel drängt. An Weihnachten etwa. „Sich fein anzuziehen – was wir ja damals gar nicht mehr so gewohnt waren – , in die Kirche zu gehen, dem gewaltigen Klang der Orgel zu lauschen, das Feierliche auf sich wirken zu lassen und dann zu einer zunächst sehr bescheidenen Bescherung nach Hause zu gehen: An diese Eindrücke erinnere ich mich noch stark“, erzählt er.

„Es muss summsen und brummsen“

Die Orgel verfehlt auch heute ihre Wirkung nicht. Man habe sich zunächst ja schon gefragt: „Restaurieren wir nicht ein Instrument, das keinen mehr interessiert?“, sagt Friedenskirchen-Pfarrer Martin Wendte. Aber selbst die Konfirmanden, die einmal Kirchengemeinderat hätten spielen sollen, hätten klar für das Instrument votiert. „Wenn die am Sonntag hier einziehen, muss es summsen und brummsen“, meint der Pfarrer lautmalerisch.

Wissbegierig fragt der Ex-Bundespräsident bei Fachmann Kaleschke – der auch als Orgelprofessor an der Hochschule für Kirchenmusik in Tübingen lehrt – nach. Er will Genaues über das Instrument wissen und erkundigt sich über die Firmengeschichte des Orgelbauunternehmens Walcker. „Das letzte Mal, als ich für einen Bundespräsidenten gespielt habe“, erzählt Kaleschke en passant, „war ich 16 Jahre alt – mit der Querflöte vor Roman Herzog in Speyer. Heute waren es ein paar Flöten mehr: 2800.“

Gruppenfoto ohne Putin

Beim Gruppenfoto vor der Orgel stimmen alle überein, dass es dieses Foto sein solle, das von Köhler im Kontext mit einer Walcker-Orgel in Erinnerung bleiben sollte – lieber als die Aufnahme, die es aus dem Jahr 2005 gibt. Sie zeigt Köhler mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin in St. Petersburg bei der Übergabe der restaurierten Walcker-Orgel der Akademischen Schostakowitsch-Philharmonie; die Restaurierung war ein Geschenk der Bundesrepublik zum 300-Jahr-Stadtjubiläum St. Petersburgs. „Es gibt aber gute kulturelle Bezüge zwischen Deutschland und Russland, die wir nicht vergessen sollten“, sagt Köhler. Trotz des nicht entschuldbaren Angriffskrieges Russlands auf die Ukraine „stehen sich nicht automatisch die Zivilgesellschaften als Feinde gegenüber“.

Vom informellen Besuch in der Friedenskirche geht es für Köhler dann weiter im Programm: zum Empfang, den die Stadt ihm und seiner Frau Eva Luise anlässlich seines 80. Geburtstages mit Ehrengästen und Musik ausrichtet, und zum Eröffnungskonzert der Schlossfestspiele im Forum. Den geplanten Termin zur Einweihung der restaurierten Orgel hat sich sein Assistent schon mal notiert: Pfingsten 2028.