Leon Draisaitl wurde in der abgelaufenen NHL-Saison zum wertvollsten Spieler gewählt, in den Drafts verpflichteten die Clubs drei deutsche Talente. Ex-Bundestrainer Marco Sturm kennt die Hintergründe.

Sport: Jürgen Kemmner (jük)

Stuttgart - Es war 1.35 Uhr am 7. Oktober in Deutschland, als sich für Tim Stützle ein neuer Lebensabschnitt ankündigte. Der 18 Jahre alte Eishockey-Profi wurde von den Ottawa Senators im sogenannten Draft der Nachwuchsspieler unter Vertrag genommen, für den gebürtigen Viersener, der aus der Jugend des Krefelder EV stammt und aktuell im Kader von DEL-Club Adler Mannheim steht, ging ein Lebenstraum in Erfüllung. Tim Stützle besitzt nun ein Ticket fürs gelobte Eishockey-Land Nordamerika. Per Video war der junge Deutsche der Veranstaltung zugeschaltet und erklärte mindestens so erfreut wie wohlerzogen: „Das ist einfach eine große Ehre. Mein Ziel ist es, mit Ottawa Pokale zu gewinnen. Ich möchte so schnell wie möglich in der NHL spielen, und ich möchte ein Leader sein.“

 

Deutsche Welle in der NHL

Natürlich hat Marco Sturm die Show, die wegen Corona in einem Studio in New Jersey online produziert worden war, miterlebt – der ehemalige NHL-Star ist Co-Trainer der Los Angeles Kings –, und er wollte wissen, mit welchen Jungstars es sein Team zu tun bekommt. Doch es ging ihm um mehr: Der Bayer war als ehemaliger Bundestrainer ziemlich stolz darauf, dass neben Stützle in der ersten Runde noch Lukas Reichel (Eisbären Berlin) von den Chicago Blackhawks und in Runde zwei John-Jason Peterka (EHC München) von den Buffalo Sabres gezogen worden waren. „Drei unter den Top 35“, freute sich Sturm, „darauf können wir stolz sein. Das war ein wirklich guter Jahrgang, das kommt nicht immer in dieser Form vor.“

Zog es im 19. Jahrhundert vornehmlich ärmere Bevölkerungsschichten aus Deutschland über den Nordatlantik in der Hoffnung, den amerikanischen Traum zu leben, so sind es heute die hochmotivierten und außergewöhnlich talentierten Puckjäger – mittlerweile könnten sie eine kleine deutsche Kolonie in der National Hockey League (NHL) gründen. Neun Germanen waren es in der abgelaufenen Runde: Lars Bergmann (San José), Dominik Kahun (Buffalo), Tom Kühnhackl (New York Islanders), Tobias Rieder (Calgary), Philipp Grubauer (Washington), Korbinian Holzer (Nashville), Thomas Greiss (New York), Nico Sturm (Minnesota) und schließlich Leon Draisaitl (Edmonton), der zum wertvollsten Spieler der Saison gewählt worden ist.

Gute Nachwuchsarbeit trägt Früchte

Eine deutsche Welle in der NHL. „Die Arbeit der vergangenen Jahre trägt Früchte“, bemerkte Sturm und nennt das Nachwuchsprogramm „Fünf Sterne“ des Deutschen Eishockey-Bundes (DEB) als einen wichtigen Erfolgsfaktor, der Talente made in Germany zu einem Exportschlager macht. Auch die Lehrgänge der Nationalmannschaften seien ein wichtiger Baustein sowie der Stufenplan „Powerplay 26“, mit dem die Deutsche Eishockey-Liga (DEL) den nationalen Talenten zu mehr Einsatzzeit verhilft. „Die Jungs müssen viel Eiszeit in einer Profi-Liga bekommen“, betont der 42 Jahre alte Sturm, „das ist das A und O. Das Ziel sollte sein, jedes Jahr einen oder zwei junge Spieler in die NHL zu bringen. Dann leisten wir wirklich gute Arbeit.“ Tim Stützle bringt es auf 41 Spiele (7 Tore) in der DEL, der ebenfalls 18 Jahre alte Lukas Reichel auf 42 Partien (12 Tore) in der deutschen Topliga.

Deutsche Wertarbeit ist beliebt in den USA und in Kanada. Die Burschen aus good old Germany gelten in Übersee als fleißig, als diszipliniert, als integrativ, als umgänglich. Da weiß jeder NHL-Coach, was er hat. Und die Deutschen sind bekannt dafür, dass sie beißen können und nicht gleich aufgeben. „Talente gibt es viele“, sagt Marco Sturm, „aber Begabung allein genügt in der NHL nicht, dann kommt es auf Werte wie Arbeit und Disziplin an.“

Ein gutes Beispiel dafür ist Leon Draisaitl. Nachdem der Kölner 2014 an Position drei (wie Stützle) von den Oilers gedraftet worden war, wurde er zweimal in ein zweitklassiges Farmteam geschickt, obwohl er schon NHL-Luft geschnuppert hatte. Erst im dritten Anlauf etablierte sich der Stürmer in der Beletage. „Ich habe auch nicht alles beim ersten Mal gelernt. Manches braucht seine Zeit. Aber du musst zeigen, dass du willst – dass du jeden Tag bereit bist, Leistung zu bringen“, erzählt Sturm, der 938 NHL-Partien in den Knochen hat, so viele wie kein anderer Deutscher. „Wenn ich einen jungen Spieler im Training und im Spiel beobachte, erkenne ich ziemlich schnell, wohin bei ihm die Reise geht.“

Deutsche besitzen einen guten Ruf

Die Deutschen besitzen einen guten Ruf bei den Trainern, andere Nationalitäten stehen im NHL-Ranking nicht so glänzend da. Russen beispielsweise. Sie sind ausgezeichnet auf dem Eis, doch sie neigen mitunter zur Grüppchenbildung im Team, wenn sie im Rudel auftreten – und das schätzen die Coaches wie Fußpilz in der Kabine. „Deshalb achten die Manager penibel darauf, dass nicht zu viele Landsleute im Team sind“, sagt Sturm: „Bei den Kings checken wir die Jungs zudem charakterlich ab. Sie müssen auch menschlich passen.“ Sich einordnen können, das große Ganze im Blick haben, darauf kommt es in den Teams von Vancouver bis Tampa an. Auch Marco Sturm war mit knapp 19 Jahren allein auf sich gestellt, als er 1997 zu den San José Sharks kam. „Ich hätte mir damals einen Deutschen im Team gewünscht“, sagt er, „aber wenn man alleine ist, lernt man schneller und intensiver.“ Persönlichkeitsbildung à la NHL.

Stützle, Reichel und Peterka sollten die nötigen Utensilien im Gepäck haben, wobei Stützle als Nummer-drei-Pick die besten Voraussetzungen für eine große Zeit in der NHL hat. „Wenn einer früh gedraftet wurde, dann wird der Club auf ihn setzen“, betont Sturm, „da bekommt man sicher seine Chancen.“ Allerdings kann der DEL-Rookie des Jahres 2020 vorerst nicht aufs Eis. Gut eine Woche nach seiner Verpflichtung verletzte er sich im Training am Arm und musste operiert werden – Stützle fällt wohl bis Anfang Dezember aus. Sportlich wirft ihn das kaum zurück. „Alles ist positiv verlaufen, und wir freuen uns darauf, dass Tim in der kommenden Saison für die Ottawa Senators spielen wird“, sagte Pierre Dorion, der General Manager der Senators.