Die ehemalige Sozialministerin Katrin Altpeter (SPD) sollte bei der Aufarbeitung des Missbrauchsskandals bei der Brüdergemeinde Korntal mitwirken. Sie zog aus Kritik an der Intransparenz des Verfahrens zurück. Im Interview begründet sie diese – und sieht auch die Kirche in der Pflicht.
Frau Altpeter, ist der Aufarbeitungsprozess noch zu retten?
Er muss weitergehen. Dies kann aber nur geschehen, wenn sich die Beteiligten auf eine gemeinsame Vorgehensweise einigen.
Sie begründen Ihren Rückzug auch damit, dass Sie in Korntal Transparenz erwartet hätten. So kennen Sie es von der Aufarbeitung der Geschichte der Heimerziehung in Baden-Württemberg. Was erlebten Sie hier?
Meine Einblicke in den Aufarbeitungsprozess in Korntal sind nur rudimentär. Allerdings fand ich es nicht nachvollziehbar, weshalb ein vorgeschlagenes Mitglied einer einzurichtenden
Vergabekommission auf einmal nicht mehr mitmachen durfte, obwohl es sich um eine ausgewiesene Expertin in diesem Bereich handelte. Dies war für mich zu keinem Zeitpunkt nachvollziehbar. Da wäre mehr Transparenz das Gebot der Stunde gewesen.
Sie haben in jüngster Zeit sicher einige Einzelschicksale in Korntal näher kennengelernt. Was hat Sie am meisten schockiert?
Schockiert ist vielleicht zu viel gesagt, aber es beschäftigt mich immer noch sehr, welchen Einfluss das Leben in einer totalen Institution, in der es keine Trennung von Wohn-, Aufenthalts- und Arbeitsbereich gab, und das Erleben von Gewalt in allen Formen auf den weiteren Lebensweg der Menschen hat. Ich bin nach wie vor sehr betroffen, wie sich das Thema Gewalt in die Lebensläufe von Menschen einprägt, die in Kindheit und Jugend selbst Opfer von Gewalt waren.
Rückblick auf die Zeit als Ministerin
Was ist Ihrer Meinung nach wesentlich, um die Situation in Korntal zu befrieden?
Meine ganz persönliche Meinung zur Befriedung ist, dass es dem Prozess sicher förderlich wäre, wenn sich die unterschiedlichen Opfergruppen auf gemeinsame Ziele einigen könnten und wenn dies als Basis der gemeinsamen Arbeit anerkannt würde.
Sehen Sie den Bischof in der Pflicht?
Ich würde mir wünschen, dass die Landeskirche in diesen Fragen Partei ergreift für die Betroffenen. Aber es steht mir nicht zu, die entsprechenden Stellen zur Parteilichkeit aufzufordern. Die Landeskirche hat ihr eigenes Parlament, die Synode. Ich denke, dort wäre das Thema gut aufgehoben.
In Ihrer Ministerzeit haben Sie sich für die Aufarbeitung der Geschichte der Heimerziehung stark gemacht. Das hat die Bedeutung unterstrichen. Wie hätte Ihr konstruktiver Beitrag in Korntal ausgesehen?
Neben der Frage nach der Höhe der Anerkennungsleistungen, die sicher in jedem Einzelfall schwierig und differenziert zu beurteilen ist, hätte sich für mich die Aufgabe nach einer historischen Aufarbeitung gestellt – und die, einen Beitrag zur Versöhnung von Tätern und Opfern zu leisten.
Sensibilisieren und wach rütteln
hätte sich für mich die Aufgabe nach einer historischen Aufarbeitung ebenso gestellt wie einen Beitrag zur Versöhnung von Tätern und Opfern zu leisten.
Sensibilisieren und wach rütteln
Ihnen war wichtig, die Heimerziehung aufzuarbeiten und etwas für die Opfer zu tun.
Zur Aufarbeitung der Geschichte der Heimerziehung in Baden-Württemberg gehörte für uns von Anfang an – neben den Fragen einer Entschädigung der betroffenen ehemaligen Heimkinder – die öffentliche Anerkennung des Unrechts, das in Einrichtungen des Landes zwischen 1949 und 1975 geschehen ist. Das Land Baden-Württemberg hat deshalb unter meiner Federführung nach 2012 auf zwei Ebenen die Aufarbeitung der Heimgeschichte im Land vorangetrieben.
Wie sah das konkret aus?
Es gab eine Anlauf- und Beratungsstelle Heimerziehung des Sozialministeriums, die bis Ende 2014 auch über finanzielle Entschädigungsleistungen entscheiden konnte, dazu die Einbindung in das „Projekt Heimerziehung“ beim Landesarchiv Baden-Württemberg. Letzteres ist bislang bundesweit einzigartig. Zwei Historikerinnen betreuen Betroffene bei der Akteneinsicht, zugleich soll die Aufarbeitung greifbarer Unterlagen Einblicke in Prozesse geben, die Gewalt in Institutionen fördern.
Auf lokaler Ebene wird um Anerkennung und Wertschätzung gerungen. Wie gelang dies auf Landesebene?
Es ging neben einem Ausgleich für individuell erlittenes Leid auch immer darum, deutlich zu machen, wie Gewalt in Institutionen entsteht, und zu sensibilisieren und wach zu rütteln, damit sich die Geschichte nicht ein weiteres Mal wiederholt.
Über ein dunkles Kapitel in der Geschichte der Heimerziehung
Die Politikerin
Katrin Altpeter war in den Jahren 2011 bis 2016 Arbeits- und Sozialministerin von Baden-Württemberg. Die 54-jährige Sozialdemokratin leitet seit April eine Schule für Altenpflege.
Der Streit
Eine Projektgruppe gestaltet die Aufarbeitung des Missbrauchsskandals. Das Gremium ist besetzt unter anderem mit zwei Vertretern der Brüdergemeinde und sechs Betroffenen. In diesem Gremium kam es zuletzt zum Streit über eine Kommission, die über die Geldzahlungen an die Opfer entscheiden soll. In dessen Verlauf stieg Altpeter aus, sie war als Kommissionsmitglied vorgesehen. Altpeter war von einer kleinen Gruppe der Betroffenen vorgeschlagen worden. Zuvor war ein anderer Wunschkandidat der Opfer von der Projektgruppe mehrheitlich abgelehnt worden. Über die Gründe gibt es unterschiedliche Angaben. Die Kommission soll nachbesetzt werden. Mit wem ist nicht bekannt.
Aufarbeitung in Korntal
2014 wurde der Missbrauch in den Einrichtungen der Brüdergemeinde publik. Seitdem wird um die Aufarbeitung der Vorfälle in den 1950er und 1960er Jahren gerungen. Es geht um Gewalt bis hin zu Vergewaltigung. Während eine Betroffenengruppe die laufende Aufarbeitung kritisiert, will die andere abschließen: Sie befürchtet das Risiko eines Scheiterns des Projekts.
Aufarbeitung im Land
Allein die Begriffe, die für die sogenannten Verwahranstalten gewählt wurden, lösten noch heute Befremden aus, sagt Katrin Altpeter. Ging es um Fürsorge oder um Unterwerfung? Vom Landeserziehungsheim bis zum streng pietistisch geprägten Fürsorgeheim, vom traditionellen Rettungsgedanken der christlichen Rettungshausbewegung in Erziehungsanstalten, gerichtlich angeordneter Fürsorgeerziehung bis hin zur freiwilligen Erziehungshilfe reichten ihr zufolge früher die Kategorien. Die Heime wurden in der Mehrzahl als „totale Institutionen“ beschrieben.