Viele haben ein Interesse, den Tod des schwerkranken Ex-Präsidenten hinaus zu zögern. Doch Mandelas Gesundheitszustand wird nun schon seit drei Wochen wie ein Staatsgeheimnis gehütet.

Pretoria - Könnte Nelson Mandela aus dem Fenster schauen, er würde seinen Traum in Erfüllung gegangen sehen. Unten, auf der Straße vor dem Krankenhaus im Zentrum von Pretoria, ist die Regenbogennation mindestens vorübergehend Wirklichkeit geworden: Schulkinder unterschiedlicher Hautfarbe heften selbstgemalte Grußbotschaften an den Zaun, eine aus 500 Kilometern Entfernung angereiste Oma lässt ihren Tränen freien Lauf, ein bleichgesichtiger Geschäftsmann lässt hundert weiße Tauben fliegen. Die Blaskapelle der Heilsarmee intoniert Choräle, während Veteranen der von Mandela gegründeten Befreiungsarmee „Umkhonto we Sizwe“ im Stechschritt auf dem Trottoir paradieren. „Wenn das Mandela sehen könnte“, sagt ein Pastor: „Er würde auf der Stelle gesund.“

 

Er sieht es aber nicht. Ob er überhaupt noch etwas sieht, weiß außer den Ärzten, Mandelas Familienkreis und einigen hochrangigen Regierungsmitgliedern keiner: Denn Mandelas Gesundheitszustand wird seit drei Wochen wie ein Staatsgeheimnis gehütet. Zwar gibt das Präsidialamt einmal am Tag eine kurze Depesche durch. Doch die besteht in der Regel aus einer dürren Floskel, die sich zwischen „kritisch, aber stabil“ und „ernst, mit Verbesserung“ bewegt. Über alles andere schweigen sich die Hüter des Heroen aus – auch über die bedrückende Frage, ob der fast 95-jährige Patient künstlich beatmet wird. Wird Nelson Mandela aus niederen Motiven künstlich am Leben gehalten? „Mandela hat genug für uns getan“, sagt die 92-jährige Nozolile Mtirara, die in ihren Jugendjahren eine Hütte mit dem Häuptlingssohn teilte: „Was wir jetzt unsererseits für ihn tun können, ist ihn gehen zu lassen.“

Die Gräber waren leer

Aber Tata, der Großvater, darf nicht sterben. Der Grund dafür ist fast 900 Kilometer von Pretoria entfernt am Fuß eines mächtigen grünen Hügels in der südafrikanischen Ostkap-Provinz zu finden. Dort hat Mandla Mandela, der 39-jährige Sohn des verstorbenen Sohnes von Madiba, aus Steuergeldern den „Großen Ort“ – ein umfangreiches Konferenzzentrum mit zahlreichen Funktionshäusern und strohgedeckten Hütten – errichten lassen. Das über den Hügel verstreut liegende Dörfchen Mvezo ist der Geburtsort Madibas, den der Dorfälteste Mandla Mandela zum lukrativen Wallfahrtsort ausbauen will. Zu diesem Zweck ließ der ANC-Parlamentarier vor zwei Jahren bereits die Gebeine von fünf nahen Verwandten des weltberühmten Großvaters aus dem Familienfriedhof im knapp 40 Kilometer entfernten Qunu ausgraben und nach Mvezo transportieren: Mit der Nacht- und Nebelaktion sollten vollendete Tatsachen geschaffen werden.

Das ging nur solange gut, bis sich auch die anderen Mitglieder der Mandela-Familie auf Tatas Tod vorzubereiten begannen. Entsprechend eines offenbar schriftlich festgehaltenen Wunsches Madibas begannen sie, eine neue Grabstätte neben dem Mandela-Haus in Qunu einzurichten, wo der Ex-Präsident einen Großteil seiner Zeit nach der Pensionierung verbrachte. Als auch dieser Teil der Familie die Gebeine der Mandelas aus dem alten Friedhof umbetten wollte, stellten sie fest, dass die Gräber bereits leer waren: Da war es um den Familienfrieden geschehen. Bei einem Familientreffen in der vergangenen Woche soll es dermaßen hoch her gegangen sein, dass Mandla schließlich wutschnaubend den Versammlungsort verließ: Nun muss das Landgericht in der nahegelegenen Provinzstadt Mthatha entscheiden – das Große Warten geht unterdessen weiter.

Viele fragen sich, wie lange Mandelas Weg noch dauern muss

Und die Nerven liegen blank. „Lasst uns in Ruhe!“, ruft Familiensprecherin Makaziwe in einem Fernsehinterview all jenen zu, „die in unsere Angelegenheiten rein reden wollen“. „Er ist unser Vater“, sagt die Tochter aus Madibas erster Ehe: „Wir hatten ihn kaum einmal in unserem Leben für uns. Dies ist jetzt eine geheiligte Zeit für uns.“ Ein Großteil der geheiligten Zeit wird nun allerdings mit dem Streit darüber verbracht, wer über die machtlose Ikone verfügen darf: Die Ärzte hätten der Familie die Option zur Abschaltung der lebenserhaltenden Maschine eingeräumt, sagt ein Mitglied des Madiba-Clans: „Doch die Familie ist zu groß. Und sie ist sich nicht einig.“

In einer klassischen Übersprunghandlung wird indessen auf die Schar der vor dem Krankenhaus campierenden Journalisten eingehauen. Sie seien „wie die Geier, die darauf warten, dass der Löwe den Büffel verschlingt“, schimpfte Tochter Makaziwe.

Viele fragen sich, was wohl geschehen muss, bis der „Lange Weg zur Freiheit“ – so der Titel von Mandelas Autobiografie – zum endgültigen Ende kommen kann. Zunächst wurde spekuliert, Barack Obamas historischer Besuch müsse abgewartet werden. Jetzt heißt es, dass erst noch der Familienstreit entschieden werden müsse. Und in zwei Wochen ist Madibas 95ster Geburtstag: Die Vorbereitungen dafür laufen auf vollen Touren. Auch der Afrikanische Nationalkongress (ANC) nutzt den Tsunami der Sympathie, um überall im Land zu Gebetsversammlungen aufzurufen. Im nächsten Jahr sind Wahlen: Noch einmal kann man das legendäre Mitglied zum Stimmenfang nutzen. Madiba, klagt der Kolumnist William Gumede, sei auf dem Sterbebett zur „Geisel“ geworden.