Der Sohn von Dietrich Thurau wird neuneinhalb Jahre gesperrt. Sein Fall beweist, dass der Radsport auch in der vergangenen Dekade längst nicht so sauber war, wie es viele Fahrer immer wieder erzählen.

Bonn/Stuttgart - Nach seinem letzten großen Coup war Tony Martin ein gefragter Mann. Auf den WM-Sieg mit der deutschen Mixed-Staffel folgte im Pressezentrum in Brügge der Interview-Marathon. Die Journalisten löcherten den Radprofi nach dessen goldenem Karriereende („Es ist der beste Abschluss, den man sich wünschen kann – ein Traum“) fast zwei Stunden lang. Allerdings hätte die Gesprächsrunde am Mittwochabend sicher noch viel länger gedauert, wenn die Nationale Anti-Doping-Agentur nicht erst am Morgen danach ihr Urteil im Fall Björn Thurau veröffentlicht hätte. Weil die Meinung von Tony Martin über den Kollegen, der für neuneinhalb Jahre (!) gesperrt wurde, ziemlich interessant gewesen wäre.

 

Der achtmalige Weltmeister, Olympia-Zweite, Tour- und Vuelta-Etappensieger hat sich immer klar gegen Doping positioniert und schon Haftstrafen für Betrüger gefordert, als ein Anti-Doping-Gesetz in Deutschland noch nicht in Sicht war. Andererseits verblüffte Tony Martin 2017 mit seiner Einschätzung, der Radsport sei zu 98 Prozent sauber. Folglich würde er Björn Thurau nun vermutlich einen Einzeltäter nennen. Einen Unverbesserlichen. Einen Unbelehrbaren. Womöglich sogar einen Nestbeschmutzer. Ob es treffende Begriffe wären? Das darf zumindest bezweifelt werden.

Thurau wurde nie positiv getestet

Die Fakten sprechen eine deutliche Sprache. Die Nada hat Thurau „wegen mehrerer Verstöße gegen Anti-Doping-Bestimmungen“ zwischen 2010 und 2014 belangt. Es handle sich dabei unter anderem um Verstöße „beim Gebrauch oder versuchten Gebrauch, Besitz, Inverkehrbringen oder der Verabreichung verbotener Substanzen zu Dopingzwecken im Radsport“. Oder anders ausgedrückt: Es geht um das volle Programm. Ums Eigendoping, um den Erwerb von Dopingmitteln, um den Handel. Die Substanzen werden fein säuberlich aufgeführt, unter anderem dabei sind TB-500, das die Muskelausdauer stimuliert, und Aicar, das hilft, Körperfett abzubauen, ohne an Leistungsfähigkeit zu verlieren. Positiv getestet worden ist Thurau (33) übrigens nie.

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Der Profi, dessen größter Erfolg 2014 der Gewinn der Bergwertung bei der Tour de Suisse war, musste zwar zwei Jahre später wegen eines zu niedrigen Cortisol-Wertes, der ein Indiz für Doping sein kann, eine einwöchige Schutzsperre absitzen. Ansonsten aber galt er – offiziell – als unbescholten. Und stellte sich selbst auch gerne als Saubermann dar. „Ich habe mir nichts zuschulden kommen lassen“, sagte er vor zwei Jahren, kurz bevor er seine Karriere beendet hat, „es gibt keinen Sport, in dem so intensiv gegen Doping gearbeitet wird wie im Radsport.“ Das große Problem: Die Kontrollen können noch so zahlreich, intelligent und engmaschig sein, sie verpuffen, das beweist der Fall Thurau erneut, viel zu oft völlig wirkungslos.

Name fällt in der Operation Aderlass

Aufgeflogen ist der Radprofi, über dessen Hintermänner nichts bekannt ist, folglich auch nicht durch Tests der Nada oder Wada. Sondern im Zuge der Operation Aderlass. Staatliche Ermittler deckten während der nordischen Ski-WM 2019 im österreichischen Seefeld das Blutdopingnetzwerk des Erfurter Sportmediziners Mark Schmidt auf. Zu dessen Kunden zählten nicht nur Langläufer, sondern auch Radprofis. Als die Polizei in der Schweiz Pirmin Lang verhörte, fiel auch der Name Björn Thurau.

Im Februar 2021 erhielt die Nada von den staatlichen Ermittlern die Akte des Frankfurters, neben der exorbitanten Sperre sollen nun auch dessen Ergebnisse zwischen 2010 und 2021 annulliert werden (sein größter Erfolg war der Gewinn des Bergtrikots bei der Tour de Suisse 2016). Von Seiten der Staatsanwaltschaft München, der federführenden Behörde in der Operation Aderlass, hat Björn Thurau nichts zu befürchten. Strafrechtlich sind seine Dopingvergehen verjährt. Ob er sich dafür innerfamiliär verteidigen muss?

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Björn Thurau ist von nun an einer, der dafür steht, dass der angeblich geläuterte Radsport auch in der vergangenen Dekade längst nicht so sauber war, wie die Protagonisten es bei vielen Gelegenheiten erzählt haben – dabei war er weit entfernt davon, ein Star zu sein, einer der das Tempo vorgibt, der Rennen gewinnen kann. Wie damals sein Vater.

Der Sohn wollte es anders machen

Dietrich Thurau, Spitzname „Blonder Engel“, verzückte ganz Radsport-Deutschland, als er 1977 bei der Tour de France 15 Tage lang das Gelbe Trikot trug und Fünfter wurde. Anschließend meinte Jacques Chirac, der damalige Bürgermeister von Paris: „Seit Konrad Adenauer hat keiner so viel für die deutsch-französische Freundschaft getan.“

Didi Thurau wurde im Laufe seiner Karriere mehrfach positiv getestet, ohne dafür lange gesperrt zu werden. Nachdem er seine Laufbahn 1989 beendet hatte, gestand er den regelmäßigen Gebrauch von leistungssteigernden Mitteln. Sein Sohn („Doping kommt für mich nicht in Frage“) wollte es anders machen. „Es war nie meine Absicht, den Erfolgen meines Vaters hinterherzujagen“, sagte er einmal, „mein Ansporn ist es, mich selber zufrieden zu stellen.“ Ohne Medikamente scheint das nicht gegangen zu sein.