Die Person O. J. Simpson steht für einen der tiefsten Abstürze einer US-Ikone. Nach neun Jahren im Gefängnis wegen Raubes wird der frühere Footballstar im Oktober auf Bewährung entlassen. Von dem Vorwurf des Mordes an seiner Frau konnte er sich nie reinwaschen. Die USA ist über ihn tief gespalten.

Cason City - O. J. Simpson hat nicht mehr die Kraft, die gesamte Nation in Atem zu halten, die Anhörung des ergrauten und abgemagerten einstigen Football-Stars vor dem Bewährungsgremium des Staates Nevada am Donnerstag, war bei Weitem nicht das Mega-Medien-Ereignis, wie sein ursprünglicher Prozess vor rund 23 Jahren. Präsident Trumps Versuche, sich aus einer Untersuchung seiner Russlandverbindungen zu winden und das Debakel um die Reform der Gesundheitsreform bewegten die USA in dieser Woche weit mehr.

 

Und doch wallten in den Reaktionen auf Simpsons Freilassung nach nur neun seiner 33 Jahre Haft dieselben Gefühle auf, die Simpson seit 1994 in der US-Bevölkerung hervorruft. In schwarzen Wohngebieten wie South Central Los Angeles oder der South Side von Chicago war Genugtuung darüber zu spüren, dass Simpson einem als ungerecht empfundenen Strafrechtsapparat entkommen ist. Unter der weißen Mittelschicht der USA herrschte hingegen das gleiche Entsetzen wie schon 1994 darüber, dass ein offenkundiger Gewaltverbrecher nach Hause gehen darf. Seit fast neun Jahre sitzt Simpson in der Haftanstalt Lovelock in Nevada ein. Diese wird der heute 70-Jährige im Oktober als freier Mann verlassen.

Der Fall O.J. Simpson offenbart den tiefen Rassismus in den USA

Bis zum Freispruch für O. J. Simpson am 3. Oktober 1995 herrschte das unausgesprochene Grundverständnis, dass die US-Gesellschaft zwar zerrissen ist, aber doch irgendwie einen gemeinsamen Boden habe. In den Tagen nach dem Urteil wurde deutlich, dass Amerikaner verschiedener Hautfarben in vollkommen verschiedenen Realitäten leben. „Es war ein rassisches Erdbeben“, sagt der schwarze Soziologe Eric Henry Dyson. „Ein Rassenbeben. Es hat enthüllt, dass wir die Dinge von Grund auf unterschiedlich betrachten.“

Der Freispruch im Fall des Mordes an seiner Frau Nicole Brown löste unter der schwarzen Bevölkerung der USA einen tagelangen ekstatischen Jubel aus. Es brachen spontane Straßenfeste aus, die Freude und Genugtuung war so groß, wie erst wieder bei der Wahl von Barack Obama.

Unter der weißen Bevölkerung herrschte hingegen die Meinung, hier sei ein offenkundiger Justizirrtum geschehen. Die Beweislast gegen Simpson war erdrückend. Es gab keine andere plausible Erklärung für den Tod seiner Frau und des Familienfreundes Ron Goldman, als eine Gewalttat durch den einstigen Football-Star.

Von dem Vorwurf des Mordes an seiner Frau konnte er sich nie reinwaschen

Doch dem schwarzen Amerika ging es um etwas ganz anderes, als um eine gerechte Strafe für O. J. Simpson. „Es ging um Genugtuung für die lange Geschichte der Ungerechtigkeit gegen Schwarze“, sagt Eric Henry Dyson. Am frischesten in der Erinnerung der mehrheitlich schwarzen Geschworenen des Simpson-Prozesses waren im Los Angeles von 1994 die weißen Polizeibeamten, die 1991 den schwarzen Autofahrer Rodney King nach einer Verkehrskontrolle brutal zusammengeschlagen hatten. Die Polizisten wurden frei gesprochen, doch die schwarze Bevölkerung von Los Angeles weigerte sich, das Urteil hinzunehmen. Es folgten die blutigsten Rassenunruhen in den USA seit den 60er Jahren.

Dieses Klima machte sich Simpsons Verteidiger Johnnie Cochran, ein junger ehrgeiziger Bürgerrechtsanwalt, skrupellos zunutze. Cochran zeichnete die untersuchenden Polizeibeamten als nachlässig und inkompetent. Insbesondere schlachtete er den aktenkundigen Rassismus des leitenden Mordkommissars Mark Fuhrman aus. In seinem Schlussplädoyer schreckte er nicht davor zurück, den Rassismus der Polizei mit dem Antisemitismus der Nazis zu vergleichen.

Simpson wollte niemals eine schwarze Ikone sein

Der Fall Simpson hatte den Rassismus des US-Strafrechts gezeigt. Und die Nachgeschichte warf ein noch trüberes Licht auf die amerikanischen Gerichte. Im Jahr 2007 wurde Simpson verhaftet, nachdem er in Las Vegas unter Androhung von Waffengewalt einen Memorabilien-Händler dazu gezwungen hatte, sein vermeintliches Eigentum heraus zu geben. Es war im Grunde ein Bagatelldelikt unter Kleinkriminellen. Doch das weiße Geschworenengericht im weißen Nevada brachte hinter verschlossenen Türen die volle Wucht seiner Macht zur Anwendung. Simpson wurde zu maximal 33 Jahren Gefängnis verurteilt. Dabei bestand kein Zweifel, dass das Gericht die Versäumnisse des Gerichts von Los Angeles gerade rücken wollte.

Die große Ironie an der Geschichte ist, dass Simpson niemals eine schwarze Ikone sein wollte. Anders als etwa sein Zeitgenosse Muhammed Ali, wollte er seinen Status als Sportheld nicht dazu nutzen, für die schwarze Sache zu kämpfen. Er wollte der Liebling aller sein und kommerziellen Erfolg haben. Simpson lebte im weißen Beverley Hills, hatte eine weiße Frau und spielte in weißen Klubs Golf.

Wenn Simpson nun als alter Mann entlassen wird, ist er ein Wanderer zwischen den Welten, einer der nirgends hingehört. Er wird einsam sein in einem Amerika, das noch tiefer gespalten ist, als je zuvor. Auch er hat diese Spaltung unterschätzt, als er glaubte, er könne seine Hautfarbe ignorieren und ein Star sein, dessen Strahlkraft seine Hautfarbe vergessen lässt. Am Ende ist er mehr durch seine Gene determiniert worden, als kaum jemand sonst. Simpson steht auf ewig als Symbol für ein Land, dessen Rassismus unausrottbar scheint.