Insgesamt 662 Einwohner verbünden sich und sanieren ein marodes Bahnhofsgebäude aus dem Ende des 19. Jahrhunderts. Der Bahnhof gilt heute als Beispiel für gelungenes bürgerschaftliches Engagement in einer Kommune.

Leutkirch - Der Bahnhofschef begrüßt den Gast in kurzer Jeanshose, weißem Polohemd und hellbraunen Flipflops. Man kann nicht behaupten, dass Christian Skrodzki ein Mann wäre, der auf Etikette übergroßen Wert legen würde. Der 46-Jährige denkt eben pragmatisch. Draußen brennt die sengende Sonne. Bei Temperaturen um die 35 Grad im Schatten hat sich Skrodzki für praktische Kleidung entschieden. Für den Inhaber einer Werbeagentur und ehrenamtlichen Vorstand der Leutkircher Bürgerbahnhof eG gilt: weniger ist mehr. Oder auch: mehr Sein als Schein. Dabei hat Leutkirch es ihm zu verdanken, dass es noch einen Bahnhof gibt, und einen so schmucken noch dazu. Es war Skrodzkis Idee, das in die Jahre gekommene Bauwerk in Bürgerhand zu bringen.

 

Der Bahnhof gilt als Beispiel für gelungenes bürgerschaftliches Engagement in einer Kommune. Mit 1,1 Millionen Euro steuerten die in einer Genossenschaft organisierten Bürger fast die Hälfte des Finanzbedarfs zur Sanierung des maroden Gebäudes aus dem Ende des 19. Jahrhunderts bei. Der Rest des Geldes kam aus den Töpfen der Stadt, des Landes und der Landesdenkmalstiftung. Schon ein Jahr nach seiner Einweihung ist der Bürgerbahnhof Leutkirch somit für viele Kommunen eine Blaupause, wie auch sie ihren Bahnhof retten können. Leutkirch gilt bei Kommunen, die ihren Bahnhof retten wollen, als Modellfall. Und das bundesweit. Im badischen Sulzfeld bei Karlsruhe hat die Idee bereits Schule gemacht, Dießen am Ammersee und Cuxhaven könnten folgen.

Im Erdgeschoss sitzt die Ulmer Hausbrauerei

Skrodzki schlappt voran und präsentiert das Gemeinschaftswerk. Im Erdgeschoss hat sich auf 380 Quadratmetern die Ulmer Hausbrauerei Barfüßer Allgäu GmbH ausgebreitet. Es ist kurz vor elf Uhr, die riesige Gaststätte hat noch nicht geöffnet. Allein im Biergarten finden 200 Gäste Platz. Der Innenbereich, zu dem auch die ehemalige Bahnhofsrestauration gehört, ist noch einmal so groß. Die Fläche schreckte auch den wichtigsten Gastronomen am Ort ab. Wohl zu Unrecht. „Es läuft sehr gut“, meint Skrodzki. Das Ambiente stimme, sagt er und deutet auf die Wände, an denen Schaukästen mit Devotionalien wie Mützen, Kellen, Stationslampen, alte Uniformen und Schilder unter übergroßen historischen Ansichten des Bahnhofs hängen.

Jede Woche führt Skrodzki Besuchergruppen durch die traditionsreichen Hallen. Davor hatte er sich jahrelang in seiner Heimatstadt die Hacken abgelaufen, um die 22 000 Einwohner von seiner Idee zu überzeugen. Doch niemand wollte ihm zuhören. In der Stadt nicht, auch nicht im Gemeinderat, obwohl er diesem lange angehört hatte.

Die Stadt musste das Gebäude von der Bahn AG übernehmen

Im Jahr 1998 hatte die Stadt den historischen Bahnhof für 230 000 Euro von der Bahn AG übernehmen müssen. Viel anzufangen aber wusste die Kommune mit der Immobilie nicht. „Außen hui, innen pfui“, hatte ein Vizepräsident der Bundesbahndirektion Stuttgart schon 1984 das Erscheinungsbild abfällig beurteilt. Drei Jahre später war der Bahnhof Kulisse in Christian Wagners Spielfilm „Wallers letzter Gang“ über das Leben eines Streckenwärters. Ende 1989 gab die Bahn ihre selbstständige Dienststelle auf. Leutkirch ereilte das Schicksal vieler kleiner Bahnhöfe auf dem Land. Der Haltepunkt wurde zur Außenstelle des Bahnhofs Aulendorf herabgestuft. Die Tage des Bahnhofs schienen gezählt.

Skrodzki aber wusste, dass es sich bei dem historischen Gebäude mit seinen hohen Räumen, den Gusssäulen, Stuckdecken und Holzvertäfelungen um ein architektonisches Juwel handelte. Ein Bahnhof, der die goldene Periode des Eisenbahnbaus Ende des 19. Jahrhundert widerspiegelt. Der Vorgängerbau war 1872 mit dem Eisenbahnanschluss Leutkirchs an die württembergische Allgäubahn von Herbertingen nach Aulendorf errichtet worden, hatte aber schon 17 Jahre später wieder abgerissen werden müssen. 1913 wurde der Bahnhof noch einmal erweitert.

Der neue Bürgermeister zeigt sich offen für die Sanierung

Das im Dämmerschlaf liegende Schmuckstück musste nur noch wachgeküsst werden. Die Zeit war gekommen, als mit dem Jahr 2009 in den Gemeinderat Mitglieder einer Bürgerinitiative einzogen, die gegen die Ansiedlung eines Großsägewerks auf dem Areal eines ehemaligen Munitionsdepots gekämpft und den ersten Bürgerentscheid in der Geschichte Leutkirchs durchgesetzt hatten. Auch der neue Oberbürgermeister Hans-Jörg Henle (CDU) zeigte sich offen dafür, den Bürgern den Bahnhof zu geben. Geld, um das marode Bauwerk zu sanieren, hatte die Kommune ohnehin nicht.

Die Idee des gelernten Bankkaufmanns Skrodzki ging so: 1111 Anteile zu je 1000 Euro sollten die Bürger zeichnen, um rund 1,1 Millionen Euro zusammenzubringen. Die Bürger sollten den Bahnhof in Erbpacht kaufen und sanieren. Die Stadt erhält eine jährliche Pacht von 10 000 Euro. Durch jährliche Mieteinnahmen von rund 100 000 Euro sollte sich das Objekt tragen.

Fünf Mitglieder finden sich zur Gründung zusammen

In Axel Müller, einem 42-jährigen Geschäftsführer einer Bauunternehmung, fand Skrodzki seinen wichtigsten Mitstreiter. Am Ende fanden sich fünf Mitglieder zur Gründung zusammen. Das kühne Vorhaben wurde von den Bruddlern an den Stammtischen in das Reich der Utopie verwiesen, Skrodzki und seinen immer zahlreicher werdenden Genossenschaftsmitgliedern wurden eigennützige Zwecke unterstellt. Die Initiative leistete auf ihrer Homepage Aufklärungsarbeit und setzte 90 Botschafter ein, die Werbung für das ehrenamtliche Projekt machten. Am Ende reichten 662 Anteilseigner, um das Ziel zu erreichen. Sie sind auf einer Sandsteinplatte in der Brauereigaststätte verewigt. Heute sind es 696 Genossen. Skrodzki ist sich sicher: „Wenn wir hier noch mal etwas Ähnliches machen wollen, sind die alle wieder dabei.“ Es gibt eine Warteliste, auf der 20 Anwärter vorgemerkt sind.

Wir sind im großzügigen Holztreppenhaus angelangt und in das Obergeschoss aufgestiegen. Dort sind auf 420 Quadratmetern sieben Medien-, Design-, und Immobilienunternehmen untergebracht. In die fast vier Meter hohen Räume ist auch Skrodzki mit seiner Werbeagentur eingezogen. Wie im ganzen Haus sind die alten Türen mit den altertümlichen Klinken belassen und auch wieder grau anstrichen worden, um dem Haus „die Atmosphäre nicht zu nehmen“, wie Skrodzki meint. Der Holzboden wurde abschliffen und geölt. Kombiniert mit den modernen Büromöbeln der Agentur wirkt alles sehr gediegen. 16 Monate lang haben 150 Handwerker von 30 Firmen aus der Region gewerkelt.

15 Firmen präsentieren ihre Vorstellungen vom Energiesparen

Skrodzki steigt voran, weiter ins Dachgeschoss, das entkernt worden ist. Er ist froh, dass hier mit dem Informationszentrum der „Nachhaltigen Stadt“ eine öffentliche Nutzung möglich war. Es handelt sich um das 2011 von der Stadt Leutkirch zusammen mit dem Energiekonzern EnBW und den OEW (Oberschwäbische Elektrizitätswerke) ins Leben gerufene Projekt, bei dem 15 Firmen aus der Region ihre Vorstellungen vom Energiesparen präsentieren. Die Volkshochschule, Verbände und Firmen nutzen die Räume zusätzlich für Vorträge und Konferenzen.

Anfang Juni hat Bürgerbahnhof-Initiator Skrodzki an ein und demselben Tag in Berlin gleich zwei Auszeichnungen von Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer (CSU) entgegennehmen können. Der Bürgerbahnhof wurde beim Wettbewerb „Menschen und Erfolge“ unter 280 Projekten ausgewählt. Die deutsche Immobilienwirtschaft wählte Skrodzki zum „Immobilienkopf des Jahres 2013“.