Die Choreografin Sasha Waltz feiert mit ihrer Kompanie das 25-Jahr-Jubiläum. Zum Auftakt führt sie in Berlin das politische Tanzstück „Exodos“ auf – und lässt sich vom Publikum feiern.

Stuttgart - Raum ist in der kleinsten Hütte, und die Kuben in der Spielstätte des Berliner Radialsystems sind wirklich klein. Kaum einen halben Meter misst jede Seite, und die Tänzer darin wirken wie erstarrt: ein Eindruck, der sich durch den grellen Lichtstrahl in den Glaskasten noch verstärkt. Er lässt die Eingeschlossenen objekthaft erscheinen, wie von El Greco gemalt. Ein starkes Bild, das sich den Zuschauern einprägt, kaum dass sie eine der beiden Nebelkammern betreten haben. Nebenan ist zur gleichen Zeit ein Himmelfahrtskommando zu sehen, das immer wieder Corey Scott-Gilbert in die lichte Höhe hebt, als wär’ er ein schwarzer Engel.

 

„Exodos“ nennt Sasha Waltz ihre neueste Arbeit, und das neugriechische Wort lässt sich auf vielfache Weise als „Ausweg“ deuten, auch als eine Art ekstatischen Eskapismus. Doch die Berliner Choreografin aus dem Badischen beschäftigt sich in ihrer Koproduktion mit der Ruhrtriennale weniger mit religiösen als mit ganz konkreten Fluchtimpulsen. Geraten in dem einen Saal die Tänzer und Tänzerinnen immer mehr ins Taumeln, kann man im anderen bereits die Spuren entdecken, die die Fliehenden hinterlassen haben: Kreidezeichnungen, die ihre Wanderung markieren, Gedichtzeilen, in der Verzweiflung auf den Boden gekritzelt, Papierfetzen, welche die nackte Not wieder sichtbar machen. „Hilfe“ ist auf einem zu lesen, auf dem anderen „Ungerechtigkeit“ – und „What if today is your day“ auf dem dritten.

Tanz zum Anfassen

Letzteres ist kein Zufall. Sasha Waltz hat ihr Stück ganz auf Partizipation angelegt, das Publikum soll sich einbezogen fühlen in die theatralische Aktion: Tanz zum Anfassen sozusagen. Schließlich entrückt uns das Stück nicht in eine ferne Vergangenheit, sondern konfrontiert uns mit der aktuellen Thematik unserer Zeit. Da kann es schon mal passieren, das man mitten im Gedränge auf kindliches Gerippe stößt oder zwischendurch einem Flüchtenden begegnet, der seine Frau im Rucksack mit sich trägt. Alles ist im mehrfachen Sinn im Fluss, und je länger das zweieinhalbstündige Stück dauert, desto mehr sieht sich der Zuschauer in eine aktive Rolle gedrängt: nicht unbedingt aus eigenem Antrieb, aber mitgerissen von den „Flüchtlingsströmen“, die sich einen Weg suchen – und sei’s durch ein Schlupfloch in einem imaginären Zaun, den Menschenhände formen.

Es sind diese Szenen, die nicht zuletzt auch körperlich ein Bewusstsein schaffen für die Spannungszustände innerhalb unserer Gesellschaft. Eines der stärksten Bilder vereint alle 26 Tänzer und Tänzerinnen in einem Kollektiv, das wie ein aufgewühltes Meer hohe Wellen schlägt und alles unter sich zu begraben droht. Da stimmt auf einmal alles in der Choreografie, die allen Turbulenzen zum Trotz nichts Chaotisches hat, und schlüssig speist sich das Klangdesign des Soundwalk Collective aus Alltagsgeräuschen und elektronischer Musik. Weniger glücklich fällt dagegen eine Pausenfüller-Einlage von Charlotte Engelkes aus, die Sentas Ballade aus dem „Fliegenden Holländer“ von Richard Wagner nicht unbedingt zum Besten gibt. Wie überhaupt das Stück nach der Sturm-Szene in vielerlei Hinsicht leider abflaut, weil Sasha Waltz meint, auch anderen Escape-Bedeutungen des Wortes „Exodus“ nachspüren zu müssen.

Am Ende stiehlt sich ein halbnacktes Paar davon und lässt das Publikum im Dunkeln sitzen. Das wartet noch eine Weile auf den Schluss, um erst zögernd, dann aber mit wachsender Begeisterung eine Sasha Waltz zu feiern, die mit dieser Produktion das Signal setzt zu den 25-Jahr-Feierlichkeiten ihrer Kompanie.