Ein Theaterstück erinnert an die Arche Noah. Die Weltuntergangssekte quälte im Wahn, den Teufel austreiben zu müssen, Menschen zu Tode.

Singen - Man kann ein Ding nicht ohne sein Gegenteil denken. Das Leben nicht ohne den Tod. Das Gute nicht ohne das Böse. Die barmherzige Tat nicht ohne die Sünde. Und Gott nicht ohne den Teufel. Im Leben der Magdalena Kohler war er stets zugegen, der Antichrist, der Beelzebub und Luzifer in seiner vielfältigen Gestalt. Wie der Teufel hineingekommen ist in ihr Leben - niemand weiß es. Sie aber hat dem Satan die Stirn geboten, ihn bekämpft und ausgetrieben, wo sie ihn in Menschengestalt erkannt hat. Mit Arbeit, Disziplin und Schlägen, furchtbaren Schlägen. Zwei Menschen sind gestorben. Magdalena Kohler ist dafür verurteilt worden. Einmal mit zehn Jahren Zuchthaus, das zweite Mal sperrte man sie in eine Irrenanstalt. Verstanden hat sie es nie.

 

Die Nachwelt hat dieser Frau den zweiten Exorzistenprozess der Bundesrepublik zu verdanken. Im Spätjahr 1988 wurde der Teufelsspuk vor dem Landgericht Konstanz öffentlich in allen Einzelheiten ausgebreitet. In ihrem Haus in der Erzbergerstraße23 in Singen hatte die 73-jährige Magdalena Kohler zusammen mit ihrer 70-jährigen Schwester die Rentnerin Anna Wermutshäuser über lange Zeit misshandelt und am Ende zu Tode geprügelt. 22Jahre zuvor hatte die Kohler schon einmal dem Teufel die Stirn geboten und in Rangwil im Züricher Oberland die 16-jährige Bernadette Hasler zu Tode foltern lassen. Die Tat vollzog sie im Jahr 1966 zusammen mit dem exkommunizierten, ehemaligen Pallottinerpater Josef Stocker und vier Mitgliedern der in Singen gegründeten Weltuntergangssekte Arche Noah.

Die Fama von den Exorzisten wurde verdrängt

Die Industriestadt hat so deutsche Nachkriegsgeschichte geschrieben. Nur mit der blutigen Verhaftung der RAF-Terroristen Günter Sonnenberg und Verena Becker am 3. Mai 1977 prägte sich die Stadt am Hohentwiel ähnlich ins kollektive Gedächtnis ein. Anders als die Terroristenjagd ist die Fama von den Exorzisten eine verdrängte Geschichte. Die Alten flüstern sie sich noch zu, die Jungen aber kennen sie nicht mehr.

Der Singener Autor und Anwalt Gerhard Zahner hat sich vorgenommen, das zu ändern. Er hat die Geschichte wie aus einem mittelalterlichen Hexensabbat in dem Theaterstück "Garni" aufgearbeitet. Nach der Pension, die gegenüber dem Kohler'schen Unglückshaus liegt. Das Laientheater der Kleinkunstbühne Gems hat das Stück in einer verlassenen Gründerzeitvilla bereits dreimal aufgeführt. Weitere Vorstellungen sollen folgen. Es ist mehr eine szenische Lesung. Drei Frauen, Leibniz'schen Monaden gleich, irrlichtern wie untote Geister durch holzgetäfelte Räume mit Seidentapeten und gestickten Wandbildern, vorbei an alten Kalendern und vergessenen Zeitschriften. Dabei werfen sie sich Wörter, halbe Sätze an den Kopf. "Schweigefetzen" nennt dies Zahner - in Anlehnung an das Nichtthema in der Stadt.

Stocker ist kein Pauker oder Dogmatiker

Stocker und Kohler lernen sich 1950 in Konstanz auf einem Einkehrtag kennen. Stocker ist 43 Jahre alt, Kohler 36. Sie, eine fromme Laienhelferin, die Nonne werden will, aber keinen Orden findet. Er, ein Lehrer des Aufbaugymnasiums für Jungen auf dem Hersberg bei Immenstaad am Bodensee, dem Geistlichen Haus der Pallottiner. Kohler ist eine agile Frau, hat halb Europa mit dem Fahrrad bereist und Wallfahrten nach Fatima und Lourdes unternommen. In Rom erhält sie eine Audienz bei Papst Pius XII. Stocker ist kein Pauker oder Dogmatiker. "Der war beliebt", erinnert sich Pater Vinzenz Vollmer, der von ihm in Griechisch und Latein unterrichtet wurde. Nur mit dem Teufel habe er's immer gehabt. "Wenn wir mal keine Griechisch-Übersetzung machen wollten, haben wir den Teufel infrage gestellt. Dann war der Stocker nicht mehr zu halten. Richtig herausgesprudelt ist es aus dem", erzählt der 77-Jährige.

1953 kommt Stocker nicht mehr aus den Sommerferien zurück. Die Kohler hat ihn überredet, mit ihr für den Orden der Borromäerinnen in den Mittleren Osten zu reisen. Stocker führt die Exerzitien durch, Kohler betreibt Gewissensforschung und bereitet die Schwestern auf die Beichte vor. In einem Kloster lernen sie die 40-jährige Nonne Stella kennen, wegen ihres naiven und kindlichen Wesens auch "Sternchen" genannt. Stella, bürgerlich Olga Endress und aus dem Allgäu stammend, teilt ihnen mit, sie empfange laufend Botschaften vom Heiland. Sie wird die Dritte im Bunde.

Die Menschheit vor der Sünde retten

Stocker, Kohler und Stella gründen in Deutschland die "Gemeinschaft des heiligen Werkes", dessen geistiges Fundament marianische Schriften und immer neu empfangene Heilsbotschaften bilden. Eine Direktive direkt vom "Chef" lautet, die drei sollten gemeinsam die Menschheit vor der Sünde erretten. In Singen sind Maria (Maria Magdalena Kohler), Josef (Josef Stocker) und das Kind (Stella) bald als "Heilige Familie" stadtbekannt. Stocker ist zu jener Zeit bereits exkommuniziert.

Die drei Frömmler bilden eine auffällige Gemeinschaft, denn sie gondeln in einem roten Mercedes 300, Kennzeichen KN-AE 724 , durch die vom Bösen durchdrungene Welt. Eine Botschaft, die Stella aufnimmt, besagt, die Eltern sollten ein großes Auto für die Missionsfahrten anschaffen. Das Geld kommt von begüterten Anhängern, wie einem Zahnarzt, dem sein Seelenheil 50.000 Mark wert ist. Kommen gerade keine Botschaften vom Herrn Jesus, spielt Stella mit ihrem Teddybären.

In Rangwil geschieht die erste Tat

Das Paar Stocker/Kohler lebt ab 1957 in wilder Ehe zusammen, weil dies "Gottes Wille" sei. Ebenso wie der Weltuntergang, den sie auf das gleiche Jahr festlegen. Da ist die Kohler gerade schwanger von Stocker. Doch das Kind geht "von selber weg". Als der Termin des jüngsten Tages folgenlos verstreicht, wenden sich einige der frisch gewonnenen Anhänger ab. Auch die Heiligen Eltern machen sich nach der Schweiz aus dem Staub, da ihnen in Waldshut ein Prozess wegen Betrugs droht. Von 1958 bis 1965 wohnen sie bei der Familie Hasler in Helikon auf engem Raum. Als wieder Geld da ist, erwirbt die Glaubensgemeinschaft ein Chalet in Rangwil für das Heilige Paar.

Hier geschieht die erste Tat. "Bernadette Hasler war ein hübsches, überaus gläubiges Kind", erinnert sich Walter Fröhlich, Heimatdichter und Singener Original, der damals das makabere Geschehen in eines seiner Fasnetslieder aufnahm. Es wird heute noch gesungen. Der 84-Jährige hatte das stille Mädchen oft im Gottesdienst in der Singener Peter-und-Paul-Kirche bemerkt. In der Sekte aber gilt sie als schwierig.

Zöglinge werden mit klösterlicher Strenge erzogen

Um sie zur Räson zu bringen, wird sie zunächst in die Erzbergerstraße geschickt, wo die Sekte eine Art Kinderheim für Anhänger eingerichtet hat. Hier werden die Zöglinge mit klösterlicher Strenge erzogen. Um die Unbotmäßigkeiten, die Renitenz und angebliche Unkeuschheit der 16-Jährigen zu brechen, kommt das Mädchen im April 1966 nach Rangwil. Magdalena Kohler erforscht dort ihr Gewissen. Endlos, immer wieder und bis ins Letzte, wird sie befragt. Immer schwerere Strafen werden ihr auferlegt. Immer neue Vorwürfe, Drangsalierungen und Schläge folgen. Die Ausübung der geliebten Musik wird ihr ebenso untersagt wie das Beichten. Stattdessen soll sie jede sündige Regung zu Papier bringen.

Am 14. Mai 1966 eskaliert die Situation. Ihre Brüder stellen das Mädchen zur Rede, erhalten trotzige Antworten, die mit immer neuen Schlägen beantwortet werden. Die Gemeinschaft kommt überein, dem gläubigen Mädchen wohne der Teufel inne. Sie soll bestraft werden. Bernadette muss bekleidet auf das Bett knien, und sechs Personen - neben ihren Brüdern auch Kohler und Stocker - mühen sich eifrig, ihr den Leibhaftigen aus dem Leib zu prügeln. Erst mit einem Spazierstock, als dieser zerbricht mit einen dickeren Prügel, dann mit einer Reitpeitsche und einem Plastikrohr. Alles in allem gehen gut hundert Schläge auf das Gesäß, den Rücken und die Extremitäten nieder. Das Mädchen macht keinen Mucks, was nur als ein weiterer Beweis ihrer Besessenheit vermerkt wird.

Die Peiniger hören erst auf, als ihr der Stuhl abgeht. Blutüberströmt muss das vor Schmerzen wimmernde Mädchen sich und ihre Kleider in einem Bach waschen, erhält einen Kaffee und wird ins Bett geschickt. In der Nacht stirbt es an einer Fettembolie. Das Gewebe der zerschlagenen Gesäßbacken ist in die Blutbahn geraten und hat Gefäße verstopft.

Seite 2: Kohler wird nicht mehr als Gefahr betrachtet

Die bestialische Tat lässt Gerhard Mauz, Gerichtsreporter des "Spiegels", damals fragen, ob man es hier nicht mit dem "Verbrechen des Jahrhunderts" zu tun habe. Mauz verneint dies im Angesicht der nationalsozialistischen Konzentrationslager. "Doch diese Untat führt tief in dieses Jahrhundert hinein", urteilt der Chronist.

Die zweite Tötung ist der ersten verblüffend ähnlich. 22 Jahre vergehen bis dahin. Magdalena Kohler hat in der Schweiz sieben ihrer zehn Jahre Zuchthaus abgesessen und ist inzwischen wieder nach Singen zurückgekehrt. Als Gefahr für die Allgemeinheit wird sie nicht mehr betrachtet. Ein Psychologe hatte vor ihrer Entlassung aus dem Gefängnis verneint, dass sie noch einmal zu einer Bluttat wie an Bernadette Hasler fähig sein könnte. Im Hegau lässt Magdalena Kohler die Arche Noah wiederaufleben, sammelt Lebensmittel für den bevorstehenen Weltuntergang und füllt ihre Rolle als "religiöser Zuchtmeister" wieder aus.

Wermuthäuser ist den Schwestern ausgeliefert

Als Opfer wird dieses Mal Anna Wermuthäuser erkoren. Sie hat lebenslanges Wohnrecht bei Magdalena Kohler und ihrer Schwester. Dafür ziehen sie ihre Rente von 1700 Mark ein. Hinzu kommen jeden Monat 300 Mark aus dem Verkauf des Hauses der Wermuthäuser. Als die Haushälterin pflegebedürftig wird, gehen die Schikanen los. Wermuthäuser ist den Schwestern ausgeliefert. In der Erzbergerstraße 23, dem Haus mit zehn Räumen und einer Hauskapelle, wird ihr ein winziges Zimmer zugestanden. Die Glühbirne ist herausgedreht - aus "Ersparnisgründen". Weil die 66-jährige, altersschwache Witwe nicht mehr viel im Haus machen kann, wird sie eingesperrt und geschlagen.

Mit der Hand, einem Schuh, mit dem Teppichklopfer. Der Drecksau, dem Biest, dem Satan und Teufelsweib sei recht geschehen, erklärt Magdalena Kohler dem Gericht, nachdem sie die Tat erst leugnete. Die Wermuthäuser sei vom Teufel besessen gewesen. Die habe keine Gnade verdient. "Die hat Schläge gewollt, die hat uns so gereizt und fertiggemacht, da hab ich ihr den Arsch vollgehauen." Beim Schlagen wechseln sich die Schwestern ab. Anna Wermuthäuser stirbt an innerer Verblutung, Fettembolie und Flüssigkeitsmangel. Sie wiegt keine 40 Kilo mehr.

Das Gericht stellt nach elf Verhandlungstagen und der Anhörung von sechs Sachverständigen sowie von 29 Zeugen fest, Magdalena Kohler sei in jener Nacht auf den 7.Februar 1988 die treibende Kraft bei den Misshandlungen gewesen. Sie wird ins Psychiatrische Landeskrankenhaus Reichenau überwiesen. Ihre jüngere Schwester hat sich da schon dem irdischen Richterspruch entzogen. Wenige Monate vor dem Prozess war sie an einem Schlaganfall gestorben. Magdalena Kohler folgt ihr nur kurze Zeit später nach. Vereint liegen sie heute auf dem Waldfriedhof Singen: die Teufelsaustreiber Pater Josef Stocker, Magdalena Kohler und ihre Schwester. Zwei Kilometer entfernt flirren im Theaterstück Wortfetzen, die von den Untaten ihres Wahns künden, als Anklageschriften durch eine morbide Gründerzeitvilla. Gut und Böse, Sünde und barmherzige Tat. Leben und Tod. Nichts ist ohne sein Gegenteil wahr. Zu fürchten aber ist der Teufel in Menschengestalt.