Der Journalist und Autor Kai Strittmatter hat in Sindelfingen einen Vortrag über China gehalten – und über die Herausforderungen, vor die uns dieses Land stellt.

China – ein modernes, weltoffenes Land, mit Freiheit, Forschung und Handel? Das Regionale Demokratiezentrum Böblingen in Kooperation mit dem Verein für Jugendliche im Landkreis Böblingen, den Museumsfreunden Böblingen und dem Landratsamt hatte in die Aula der Gottlieb-Daimler Schule eingeladen. „Diktatur 2.0 – Wie China den Totalitarismus neu erfindet und uns dabei herausfordert“ hieß das Thema des Abends, das von Journalist, Autor und China-Kenner Kai Strittmatter vorgetragen wurde.

 

Strittmatter studierte Sinologie, die Wissenschaft der chinesischen Sprache und Kultur, in München, Xi’an und Taipeh und war von 1997 bis 2018 Korrespondent der „Süddeutschen Zeitung“ in Peking.

Erschreckende Einblicke in politische Veränderungen

Die meisten Menschen kennen ein China, das nach dem Tod des Diktators Mao Tsetung 1976 begann. Ein modernes, weltoffenes Land, mit Freiheit, Forschung und Handel. Eine funktionierende Wirtschaft ohne Ideologien, bei der die Politik hinten angestellt war. Staats- und Parteichef Xi Jinping, der seit 2012 regiert, hat das Land in den vergangenen zehn Jahren unter seine Kontrolle gebracht und alle Fortschritte der Jahre zuvor zunichte gemacht. Er schaffte die Freiheiten und damit die blühende Zivilgesellschaft mit ihren Bürgerrechten ab. Diese Erkenntnis brachte Kai Strittmatter aus China mit und gab zum Teil erschreckende Einblicke in die politischen und gesellschaftlichen Veränderungen des asiatischen Landes.

Die Einleitung in den Abend garnierte Kai Strittmatter zunächst mit Rezeptvorschlägen aus der China-Küche und den Worten: „Ebenso wie vor der chinesischen Diktatur muss man hier vor der chinesischen Küche warnen, denn was es bei uns gibt, ist ein Fake. Aber Sinn des Lügens ist es zu überwältigen. Es ist das Handbuch der Diktatur.“ Xi Jinping nutze dieses Instrument des Lügens bisher wohl überaus erfolgreich. Daher wollte der Referent nicht über China und die Chinesen sprechen, sondern über die Kommunistische Partei (KP). Denn jeder, der sie kritisiert, sei automatisch Feind des chinesischen Volkes.

Getränkeautomat nur noch per Handy bezahlen

Strittmatter untermauerte das Gesagte auch mit Bildern und zeigte die Parallelen von Xi Jinping und dem ehemaligen Herrscher Mao Tsetung auf. Seine aussagekräftigen Quellen verdeutlichten, wie viel Macht und Kontrolle Xi Jinping bereits über das Volk hat. Technologie, das Setzen auf künstliche Intelligenz (KI) und Bigdata helfen ihm dabei. Bis ins Jahr 2025 wollte die KP im Bereich Technologie die Welt und vor allem die USA aufgeholt haben. Um das Parteiziel zu erreichen wurde zum Beispiel bei der Bargeldabschaffung nicht erst die Kreditkarte eingesetzt, sondern sofort die Bezahlung per Mobiltelefon realisiert. Wer heute in China einen Getränkeautomat bedient, bekommt ohne eigenes Zutun umgehend auf seinem mobilen Telefon die Meldung über die Zahlung des fälligen Betrags. Zudem brachte die Coronapandemie der KP beste Voraussetzungen für ihren Kontrollausbau.

Gesichtserkennung an der Ampel

„Dank der explosionsartigen Fortschritte hat China heute nicht nur die wertvollsten KI-Unternehmen der Welt, sondern kann mithilfe der Gesichtserkennung auch jeden Bürger innerhalb kürzester Zeit identifizieren“, sagte der langjährige China-Korrespondent und präsentierte die Beispiele seiner Aussage. Demnach werden Bürger, die über eine rote Ampel gehen, in Sekundenschnelle auf der Leinwand direkt an der Kreuzung mit Bild, Namen und Ausweisnummer gezeigt. Oder wer öffentliche Toiletten aufsucht, bekommt nur Papier ausgegeben, nachdem die Gesichtserkennung ihn als guten Bürger erkannt hat.

Um festzustellen, wer vorbildlicher Bürger ist, wurde ein Punktesystem eingeführt. Gute Bürger haben 1000 Punkte. Hundebesitzer, die die Hinterlassenschaften ihrer Tiere nicht beseitigen, erhalten einen Abzug von fünf Punkten. Die Verletzung sozialer oder religiöser Normen bringt einen 50-Punkte-Abzug ein. Wessen Punktestand sich aufgrund unbezahlter Rechnungen, Missachtung der öffentlichen Ordnung oder politischer Auffälligkeiten verringert, läuft Gefahr, auf eine schwarze Liste gesetzt zu werden. Raunen ging durch die Zuschauerreihen und entsprechend besorgte Fragen wurden am Ende der Veranstaltung gestellt.

Schon immer hatte China sich als Weltzentrum verstanden und dieses selbst ernannte Reich der Mitte schenke der Welt auch heute wieder seine chinesische Weisheit. Darum sieht Strittmatter China aktuell als eine große Herausforderung an: „Chinas Expansionslust zeigt sich überall. Das aktuellste Beispiel ist der Hamburger Hafen.“