Experte zur Kita-Krise in Stuttgart Schwierige Kinder sind nur ein Grund – Darum verlassen Fachkräfte die Kita

Wie schafft man es, Fachkräfte in den Kitas zu halten? Foto: /adobe.stock

Zu viele Kinder, die keine Regeln und Grenzen akzeptieren, sind ein Punkt, warum ausgebildete Erzieherinnen und Erzieher nicht oder nicht ganztags in der Kita arbeiten wollen. Doch es gibt noch einige Probleme mehr.

Familie/Bildung/Soziales: Alexandra Kratz (atz)

Etwa 3000 Familien in Stuttgart haben keinen Kita-Platz. Dabei fehlt es nicht an Räumen, sondern am Personal. Wie schafft man es, wieder mehr Stellen zu besetzen? Auf diese Frage antworte Jörg Schulze-Gronemeyer im Interview. Er ist der Leiter der Abteilung Jugend und Soziales bei der Evangelischen Kirche in Stuttgart.

 

Herr Schulze-Gronemeyer, was braucht es aus Ihrer Sicht, um Kitas personell gut aufzustellen?

Es braucht einen ausreichenden Fachkraftschlüssel. Wir haben den klassischen Ausbildungsbereich mit Erzieherinnen und Erziehern , Kinderpflegerinnen, Sozialpädagogen und Sozialassistenz. Jetzt kommen Quereinsteiger und Direkteinsteiger hinzu, also Personen, die fachfremd sind. Der Anteil der Nicht-Fachkräfte darf nicht zu groß werden. Pädagogische Fachkräfte müssen weiterhin in den Einrichtungen den größten Anteil haben.

Ein ausreichender Fachkräfteschlüssel in den Kitas ist Jörg Schulze-Gronemeyer wichtig. Foto: Evangelische Kirche Stuttgart

Wie findet man diese pädagogischen Fachkräfte?

Vor allem durch Ausbildung, das ist und bleibt der wichtigste Bereich. Es müssen weitere Ausbildungsplätze geschaffen werden, sei es im klassischen System mit zwei Jahren Theorie an der Fachschule und einem Jahr Anerkennungspraxis, oder im dualen System an den Fach- und Hochschulen. Doch bei diesem Punkt gibt es ein weiteres Problem.

Welches?

Die studierten Kindheits- oder Elementarpädagogen finden im Vergütungsgruppenplan keine richtige Einordnung. Das sind oft Erzieherinnen und Erzieher, die noch einmal studieren. Die gehen danach aber nicht zurück auf eine Gruppenleitung, dann hätten sie ja nicht studieren müssen. Was ihnen bleibt, ist eine Leitung oder stellvertretende Leitung. Aber manche trauen sich das mit Mitte 20 noch nicht zu. Doch andere Stellen für jemanden, der studiert und damit einen größeren theoretischen Hintergrund hat, gibt es in dem gesamten Gefüge nicht.

Was könnten das für Stellen sein?

Das könnten begleitende Stellen sein für Beratung oder Kindersozialarbeit oder Stabsstellen, die intern bestimmte Themen wie Sprachförderung vorantreiben. Solche Stellen sind aber im Tarifgefüge nicht vorgesehen. Es gibt nur Gruppendienst und dann Leitung, das Gefüge ist sehr traditionell aufgebaut. Darum gehen die studierten Fachkräfte in andere Bereiche, zum Beispiel in die städtischen Beratungszentren, wo sie auch sehr begehrt sind. Dem Kita-Bereich gehen sie so aber verloren.

Wer kann an dieser Situation etwas ändern?

Der Tarifplan wird zwischen den Gewerkschaften und den Arbeitgeberverbänden festgelegt.

Wenn Sie die Gewerkschaften ansprechen, heißt das, dass die Erzieher und Erzieherinnen für ein besseres Gehaltsgefüge streiken müssen?

Man müsste in dem Gehaltsgefüge eine neue Gruppierung einfügen, die sich speziell an die Studierten wendet, zum Beispiel eben Stabs- oder Beratungsstellen. Da hinkt der Tarifvertrag der Situation um Jahre hinterher.

Wird das Personal in Kitas generell zu schlecht bezahlt?

Das würde ich nicht sagen. Wir haben eine Steigerung der Gehälter im öffentlichen Dienst in den vergangenen zehn Jahren um etwa 30 Prozent, im Kita-Bereich waren es um die 45 Prozent. Und in Stuttgart kommen Zulagen obendrauf, wie das Deutschland-Ticket und die Stuttgart-Zulage. Die Situation hat sich also deutlich verbessert.

In vielen Kitas gibt es eine hohe Fluktuation. Die Fachkräfte können nicht in den Einrichtungen gehalten werden. Was sind die Gründe dafür?

Das ist aktuell genau mein Thema: Die Frage, was wir tun können, damit die Mitarbeitenden bleiben. Ich bin in engem Kontakt mit unseren 100 Leitungen. Dabei geht es nicht nur darum zu vermeiden, dass Fachkräfte ganz aus dem Beruf aussteigen, sondern auch darum zu vermeiden, dass Fachkräfte ihre Arbeitszeiten reduzieren. Wir haben Mitarbeitende, die gehen morgens in die Kita und geben nachmittags Sportkurse, weil es ihnen ganztags in der Kita zu viel wird.

Warum wird es ihnen zu viel?

Ein großer Bereich ist, dass die Zahl der Situationen mit Kindern mit herausforderndem Verhalten zugenommen hat. Das hat mehrere Gründe. Viele Mädchen und Jungen haben nur wenig Erfahrungen mit anderen Kindern, da wirkt die Pandemie noch nach. Meine Vermutung ist aber auch, dass der Medienkonsum zugenommen hat und dass er früher beginnt, das hat Folgen. Fakt ist, dass viele Kinder mit den Zeiten überfordert sind, die können um 12 Uhr einfach nicht mehr und reagieren dann herausfordernd, weil es ihnen zu laut ist, weil zu viele andere Kinder um sie herum sind. Zum Teil ist auch die Unsicherheit der Eltern ein Problem. Die sagen uns dann, dass es bei ihnen zu Hause funktioniere, und wenn es in der Einrichtung nicht funktioniere, sei das unser Problem.

Wie reagieren Sie darauf?

Wir schulen unser Personal im Umgang mit herausforderndem Verhalten und bilden Multiplikatoren aus. Das ist ein Schwerpunkt 2024/2025. Was aber fehlt, ist eine gute Krisenintervention. Wenn ich in einer Einrichtung oft Situationen mit herausforderndem Verhalten habe, muss jemand von außen kommen und unterstützen. Beim Gesundheitsamt gibt es noch so eine Stelle, die aber nur für die kleinen Träger zur Verfügung steht. Die Stadt selbst fängt meiner Meinung nach viel über die Beratungszentren auf. Die beiden kirchlichen Kita-Träger haben bisher weder Zugriff auf die eine, noch auf die andere Ressource. Aber wir haben deutlichen Bedarf. Aus unserer Sicht hätte eine solche Stelle für uns eine hohe Effektivität.

Was melden die Leitungen noch zurück?

Auch wenn es in einer Einrichtung viele Teilzeitkräfte gibt, kann es schwierig werden. Denn die Zeit, die man gemeinsam in der Betreuung verbringt und die einem für Teambesprechungen bleibt, reduziert sich. Es gibt immer wieder Unterbrechungen im Tagesablauf. Das wird von den Leitungen als eine Herausforderung beschrieben. Ebenso, wenn es viele Quereinsteiger und Direkteinstieg gibt, die sich erst in den pädagogischen Bereich einfinden müssen. Das bedeutet immer mehr Begleitung und Anleitung.

Wie hält man das Personal, wenn es so viele Herausforderungen im Berufsalltag gibt?

Wichtig ist eine gutes Miteinander im Team: eine gute Zusammenarbeit, vergleichbare Ziele und Werte, ein guter Austausch. Dann bleiben die Mitarbeitenden, dann fahren sie auch eine Stunde in ihre Kita, und dann reduzieren sie auch nicht ihre Arbeitszeit. Das ist das Ziel, aber um das zu erreichen, brauchen die Einrichtungen Unterstützung.

In welcher Form?

In Form einer guten Supervision für die Teamentwicklung und Hilfe bei der Organisation von Teamevents. Eigentlich unspektakuläre Maßnahmen, die stärker gefördert werden sollten.

Da ist die Stadt gefragt?

Das ist unsere Sicht auf die Dinge. Das wäre auch umsetzbar und finanzierbar – zusätzlich zu einer neuen Stelle für die Krisenintervention. Mit dieser Mischung würde es gelingen, die Mitarbeitenden in den Einrichtungen zu halten – und zwar mit hohen Stellenanteilen. Da bin ich relativ sicher, das ist das, was die Einrichtung zurückmelden.

Diese Forderung haben Sie bereits formuliert, unter anderem im Jugendhilfeausschuss. Aber ist die Botschaft auch angekommen?

Die Forderung haben wir fachlich und inhaltlich formuliert, aber noch nicht als Antrag. Solche Diskussionen brauchen immer weine Weile. Es wird einen Antrag zum Doppelhaushalt geben, wenn es nicht vorher auf Resonanz stößt.

Kurzfristig werden sich kaum zusätzliche Fachkräfte finden. Ist vor diesem Hintergrund die Reduzierung der Ganztagsplätze der richtiger Schritt, um schnell mehr Familien einen Kita-Platz anbieten zu können?

Wenn wie aktuell in Stuttgart 3000 Familien keinen Platz haben, ist das aus meiner Sicht eine Notwendigkeit. Mein Ziel heißt: alle Kinder einen Platz, und wer einen nachgewiesnen Bedarf für einen Ganztagsplatz hat, bekommt diesen. Durchschnittlich würden dafür vermutlich 60 Prozent Ganztagsplätze reichen, in manchen Stadtteilen braucht es vielleicht auch mehr. Der Fachkräftemangel in den Kitas bleibt die nächsten Jahre bestehen, ist meiner Meinung nach aber eine vorübergehende Situation. Ich rechne damit, dass die genannten Maßnahmen wirken, dann kann es auch wieder mehr Ganztagsplätze geben.

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