Experten diskutieren über Mediensucht Chatten bis der Arzt kommen muss

Wie viel Medienkompetenz brauchen Kinder? Darüber gibt es zwischen Psychiatern, Lehrern, Eltern und Politiker immer wieder Diskussionen. Foto: dpa

Ein Smartphone oder ein Tablet zu bedienen ist kinderleicht. Doch brauchen Kinder so früh wie möglich digitale Helfer? Darüber streiten Experten schon lange. Klar ist aber: Das Alter ist nur ein Maßstab.

Gesundheit für Menschen in Stuttgart: Regine Warth (wa)

Tübingen - Die Türklingel ertönt im spannendsten Augenblick. Noch wenige Meter, ein gezielter Schuss auf den Gegner – und das nächste Level im Computerspiel wäre Lukas sicher gewesen. Doch jetzt steht die Freundin vor der Tür, und will wissen, wie es ihm geht. „Du hockst seit Tagen nur noch in deinem Zimmer“, sagt sie. Doch Lukas will keine Vorwürfe hören. Er will nur eines: weiterspielen.

 

„Game over“ lautet der Titel, den die Schüler des Tübinger Keplergymnasiums für ihren Kurzfilm gewählt habe, den sie für die Suchtmediziner der Universitätsklinik Tübingen erstellt haben, gefördert unter anderem von Geldern des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG). Seit wenigen Wochen kann er auf der Homepage der Uniklinik erstehilfe-internetsucht.de angeklickt werden. Er soll, so die Hoffnung des stellvertretenden Direktors der Sektion Psychiatrie und Psychologie der Uniklinik, Anil Batra, vor allem Teenager zum Nachdenken animieren, was passieren kann, wenn man sich mehr und mehr in der digitalen Welt verliert.

Wie digital darf der Alltag von Schulkindern sein?

Die Sorge um die digitale Jugend ist nicht neu: Schon seit Jahren warnen Psychologen, Psychiater und Kinderärzte vor den gesundheitlichen Gefahren, die von Smartphone, Laptops und Tablets ausgehen sollen. Dem gegenüber stehen Medienpädagogen, Bildungspolitiker und IT-Konzerne, die mehr digitale Medien im Unterricht fordern. Kein Wunder, dass Eltern nun verunsichert sind und sich fragen, wie digital der Alltag sein darf, sagt Batra – und wann ein Kind dabei Schaden nimmt.

Doch die Grenze für Experten scheint nicht zu leicht zu ziehen zu sein. Denn die wissenschaftliche Datenlage ist dünn, Langzeitbeobachtungen gibt es noch nicht. Aber es gibt seitens der Ärzteschaft alarmierende Hinweise: So hat der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte eine Studie mit 6000 Kindern aus fast 80 Kinderarztpraxen in Deutschland veröffentlicht, nach der bei 30 Prozent der Vorschulkinder, die länger als eine halbe Stunde pro Tag am Handy oder Computer spielen, Sprachprobleme auftreten. Das sei ein doppelt so hoher Anteil wie bei Kindern mit geringerem Medienkonsum. Ähnliches zeigt die Blikk-Studie der Bundesdrogenbeauftragten Marlene Mortler: Demnach leide unter hohem Medienkonsum auch die Lesefähigkeit und die Konzentration. Zudem wären Kinder, die viel Zeit vor Bildschirmen verbringen, übergewichtiger.

Suchtforscher kämpfen mit dem Henne-Ei-Problem

Aber auch bei diesen plakativen Erkenntnissen bleiben Fragen offen – denen Suchtmediziner wie Rainer Thomasius, Leiter des Deutschen Zentrums für Suchtfragen am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) mit mehr und mehr Studien nachzugehen versuchen. Zusammen mit einer Krankenkasse hat er die Social-Media-Abhängigkeit von rund 1000 Jugendlichen untersucht. Das Ergebnis: 2,6 Prozent der Teilnehmer erfüllten die Voraussetzungen einer potenziellen Social-Media-Suchtkrankheit. Hochgerechnet auf die in Deutschland lebenden Jugendlichen sind das Hunderttausend möglicher Betroffener, die zudem Anzeichen von Depressivität, ADHS oder kognitive Defizite aufzeigen – wie etwa eine Lernschwäche.

Trotz der Vielzahl an Zahlen wissen Thomasius und sein Team aber nicht, welcher Faktor genau hierfür die Ursache sein könnte: So könne es durchaus sein, dass sich depressive Jugendliche oder solche mit ADHS häufiger in die virtuelle Welt zurückziehen und deshalb ein Suchtverhalten entwickeln. „Wir wissen noch sehr wenig“, sagt Thomasius. Aber er könne aus Erfahrung sprechen: „Wir sehen in unseren Kliniken mehr und mehr Jugendliche, die Probleme haben, freiwillig mal auf Smartphone oder Computer zu verzichten.“ Das könne man nicht ignorieren. „Dagegen muss man etwas tun“, sagt der Hamburger Suchtmediziner. Und zwar so früh wie möglich.

Online-Videospielsucht ab Juni als Krankheit anerkannt

Mehr Erkenntnisse über die Risiken und Ausprägungen dieser Suchtform erhoffen sich Experten nun ab Juni: Dann wird der Katalog der psychischen Krankheiten zumindest um die Sucht nach Online-Videospielen erweitert. „Bislang konnten wir nur die Auswirkungen dieser Sucht behandeln wie beispielsweise die Depression“, sagt Christoph Möller. Der Psychiater und Psychotherapeut ist Chefarzt im Kinder- und Jugendkrankenhaus Auf der Bult in Hannover und betreut dort unter anderem Teenager, die ihr Smartphone oder die Computertastatur nicht aus der Hand geben wollen. Die Therapie dauert nicht selten mehrere Monate. Zeit, in der die Betroffenen erst wieder den Geschmack an der realen Welt finden müssen – mit kaltem Entzug und viel Zeit in der Natur und beim Sport. „Viele verstehen gar nicht so sehr, was in der digitalen Welt vor sich geht“, sagt Möller.

Er fordert mehr Aufklärung – insbesondere der Eltern und Pädagogen. Die heutigen Kinder und Jugendlichen dagegen sind mit dem Internet groß geworden und kennen ein Leben ohne das gar nicht. „Das allein birgt schon ein Suchtpotenzial.“ Das müsse gemindert werden. Daher lautet sein erster Rat, wenn es darum geht, Kinder mit Medien zu konfrontieren: „Je später umso besser: Im Grundschulalter brauchen Kinder kein Smartphone oder Tablet.“

Und auch später gilt: Sofern im Unterricht Technologie so spezifisch wie möglich eingesetzt wird und nicht der Unterhaltung dient, sei dagegen nichts einzuwenden, sagt Möller. „Wichtiger ist es, den Kindern einen verantwortungsvollen Umgang mit digitalen Medien beizubringen.“ Dabei sind die Eltern gefragt: Sie sollten sich dafür interessieren, was das Kind im Netz macht, und auf bildschirmfreie Zeiten achten. „Das Wirksamste, was man virtuellen Welten entgegensetzen kann, sind soziale Kontakte“, so Möller. Und zwar im realen Leben.

Tipps für Eltern

Der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte hat zusammen mit dem Bundesgesundheitsministerium, Krankenkassen und weiteren medizinischen Verbänden Empfehlungen formuliert, worauf Eltern achten sollen, wenn ihre Kinder Smartphones und Tablets nutzen:

Vorbild sein Eltern sind Vorbild für ihre Kinder. Daher sollten sie selbst Smartphones und Co nicht aus Langeweile nutzen: „Essen Sie ohne Bildschirmmedien und nutzen Sie Bildschirmmedien, ohne zu essen“, lautet ein Rat. Ebenso gilt: Fernsehen oder Surfen ist vor dem Schlafengehen und im Schlafzimmer tabu.

Kein Erziehungshelfer Bildschirmmedien sollten nicht zur Belohnung, Bestrafung oder Beruhigung eingesetzt werden.

Aufmerksam sein Wenn Eltern mit ihren Kindern sprechen, sollten sie auch aufmerksam zuhören. Wichtig ist, dass das Kind mehr Zeit in Bewegung verbringt, als vor dem Bildschirm zu sitzen.

Klare Regeln Die Nutzung von Smartphone, Tablet und Computer sollte zeitlich begrenzt sein. Wichtig ist, die Altersbeschränkungen für Computerspiele, Filme und soziale Medien einzuhalten.

Aufklärung Eltern sollten mit dem Kind über Datenschutz, soziale Medien, Gewalt, Pornografie, Glücksspiel sprechen – und zwar bevor es einen Internetzugang erhält. „Lassen Sie sich auch von Ihrem Kind zeigen und erklären, was es im Internet interessiert“, lautet ein weiterer Rat der Experten an die Eltern.

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