Die Pädagogische Hochschule Weingarten bietet eine Weiterbildung zur Alphabetisierung an. Der Studiengang ist bundesweit einmalig, doch die Nachfrage ist bescheiden. Dabei gibt es auch in Baden-Württemberg eine Million Erwachsene, die nicht richtig lesen und schreiben können.

Weingarten - „Es fehlt am Material, die Lehrbücher sind kindisch und die Gruppen sind so heterogen, es ist schlimmer als in der Grundschule.“ Auf diesen kurzen aber dramatischen Nenner bringt Karoline ihre Erfahrungen aus den Alphabetisierungskursen, und ihre Kolleginnen nicken beifällig. Sechs Frauen sitzen im Seminarraum an der Pädagogischen Hochschule (PH) Weingarten und tauschen sich aus. Sie wissen, wovon sie reden.

 

Zum Teil bereiten sie seit Jahren Flüchtlinge in Integrationskursen auf die Sprachprüfung vor, oder sie beraten – wie Karoline – Lehrer, die versuchen, Erwachsenen das Lesen und Schreiben nahezubringen. Sie kennen sich aus, und sie wollen doch noch mehr wissen.

In Weingarten besuchen sie den bundesweit einzigen berufsbegleitenden Masterstudiengang, der sich der Alphabetisierung und der Grundbildung widmet. Karoline reist regelmäßig aus Tirol zu den Seminaren an. Sie ist Grundschullehrerin und hat in ihrer Ausbildung Basiswissen zur Alphabetisierung schmerzlich vermisst. „Ohne die nötige Theorie kann es in der Praxis nicht klappen“, konstatiert die 30-Jährige, die die Erwachsenenbildung als den Bereich betrachtet, in dem sie langfristig arbeiten will.

Seyhan Avci gibt schon seit sechs Jahren an der Volkshochschule in Frankfurt am Main Integrationskurse und hat das schlichte Anliegen: „Ich möchte kompetenter werden.“ Ein Semester hat die Türkin schon hinter sich, und sie verzeichnet bereits positive Ergebnisse. „Der Umgang mit den Hauptamtlichen ist für mich einfacher geworden.“

Wenn sie das zweieinhalbjährige Studium in Weingarten abgeschlossen hat, hofft Seyhan Avci, selbst Hauptamtliche an der Volkshochschule zu werden. Wenn das gelingt, würde sie das Wunschbild der Dozentin Cordula Löffler und des PH-Rektors Werner Knapp verkörpern. Beide hoffen, dass sich die Situation der Alphabetisierung bessert.

Experten fehlen

Zurzeit befindet sich die PH Weingarten mit ihrem Angebot in einem Dilemma. Der Kurs ist eher schwach nachgefragt, dabei gibt es nur wenige Fachleute für die Alphabetisierung. 15 Prozent der Erwachsenen in Deutschland gelten als funktionale Analphabeten, als Menschen, die, wenn sie überhaupt lesen können, den Sinn selbst kurzer Texte nicht erfassen können. In Baden-Württemberg wird die Anzahl derer, die aus dem Buchstabensalat keine sinnvollen Wörter bilden können, auf eine Million geschätzt.

Da wäre kompetente Hilfestellung bitter nötig, finden Löffler und Knapp. Doch viele, die bereits als Kursleiter etwa an Volkshochschulen tätig sind, sind zurückhaltend mit Weiterbildungen – zumal sie für das Studium in Weingarten 1000 Euro im Semester bezahlen müssen. Denn, sagt Cordula Löffler, die Professorin für Sprachdidaktik an der PH, „die Kursleiter werden nicht besser bezahlt, wenn sie besser ausgebildet sind“.

Auch sind die meisten Lehrtätigkeiten an den Volkshochschulen befristet. Hier geht es ins Grundsätzliche. „Grundbildung ist eine Aufgabe der Gesellschaft“, konstatiert der Rektor Werner Knapp. Er wünscht sich, dass sich die Finanzierung der Alphabetisierungskurse nicht länger an Projekten orientiert, sondern sich zur Daueraufgabe entwickelt. Für die Grundbildung brauche es mehr Geld.

Zuschüsse erhöht

Ein Stück weit bewegt sich der Staat in diese Richtung. Die Landesregierung hat für die Jahre 2015 und 2016 den Volkshochschulen eine höhere Förderung in Aussicht gestellt. Der Stuttgarter Oberbürgermeister Fritz Kuhn (Grüne) hatte im Juli in seiner Eigenschaft als Vorsitzender des Volkshochschulverbands Baden-Württemberg betont, dass die Volkshochschulen mit dem Geld vor allem die Integrationsarbeit verstärken wollten. Die Alphabetisierung gilt als wesentliches Element.

Cordula Löffler zählt den Analphabetismus zu einem ihrer Forschungsschwerpunkte. Sie hat mit Absichtserklärungen so ihre Erfahrungen gemacht. Von 2003 bis 2012 gab es die weltweite Alphabetisierungsdekade der Vereinten Nationen. Deutschland wollte die Zahl der funktionalen Analphabeten bis 2012 halbieren. Die Professorin erinnert sich: „Wir hatten von der Alphabetisierungsdekade einen Schub erwartet. Getan hat sich nichts. Es gab nicht mehr Kurse und auch nicht mehr Kursteilnehmer.“

Scheidung nach Kursteilnahme

Mit den Alphabetisierungskursen ist das nach den Erfahrungen der Sprachdidaktikerin ohnehin so eine Sache. Analphabeten neigen dazu, sich zu verstecken. Wenn sie sich zu Kursen durchringen und auch noch erfolgreich sind, verändern sich die Teilnehmer stark. Vorher lebten sie oft in großer Abhängigkeit. „Nirgendwo gibt es so viele Scheidungen wie nach der Alphabetisierung“, sagt Löffler.

Aber nicht nur die Volkshochschulen wären ein Tätigkeitsfeld für Alphabetisierungsexperten. Gegenstand des Studiengangs sind Fördermethoden, Lernberatung und Diagnostik. Lehrer nehmen gerne als Gasthörer einzelne Module wahr, „vor allem wegen der Diagnostik“, sagt Löffler. Die Fähigkeit, Leseschwäche zu erkennen, ist auch an den Schulen entscheidend.

Schule als Einsatzort

Jedes Jahr verlassen in Deutschland rund 60 000 Jugendliche die Schulen ohne Abschluss. Die meisten von ihnen, weil sie Probleme mit dem Lesen und Schreiben haben. Deshalb schaffen viele auch die Berufsschule nicht und stehen dann ohne Ausbildung da. „Es ist sinnvoll, das früher abzufangen“, sagt Löffler. Absolventen des Studiengangs in Weingarten sieht sie als „Fachkräfte für alle Schulformen“. Würden die künftigen Master dort früh eingesetzt, wäre dies „eine wunderbare Prävention“.

Dass das Studium hilft, bestätigt Pia. Sie ist pensionierte Grundschullehrerin und hat sich nun auf die Einzelförderung von Kindern verlegt, die nicht Deutsch oder nicht lesen und schreiben können. „Ich erwarte mir von dem Studium mehr Rüstzeug“. Die Offenburgerin möchte „von den Sprachwissenschaftlern lernen, was ich nicht vergessen darf, wenn ich mit den Kindern arbeite“. Pia ist Gasthörerin in Weingarten und macht die Fortbildung sogar auf eigene Kosten. „Es gibt für mich Interessanteres als eine Weltreise.“

100 Alphabetisierungskurse

Die Volkshochschulen in Baden-Württemberg haben bisher rund 100 Alphabetisierungskurse mit jeweils fünf bis sechs Teilnehmern angeboten, berichtete Hermann Huba, der Direktor des VHS-Verbands Baden-Württemberg nach der Jahrestagung im Juli.

Die Landesregierung will vom kommenden Jahr an die Zuschüsse für die allgemeine Weiterbildung auf das bundesweite Niveau anheben. Zu den aktuellen Zuschüssen von 15,7 Millionen Euro kommen im Doppelhaushalt 2015/16 weitere 8,6 Millionen Euro hinzu.

Der berufsbegleitende Masterstudiengang Alphabetisierung und Grundbildung gliedert sich in Selbstlernphasen, betreutes E-Learning, betreute Praxisphasen und in Präsenzveranstaltungen – vorwiegend an Wochenenden oder in mehrtägigen Blöcken in den Schulferien.