Die Psychologin Julia Elen Haferkamp ist Expertin für das Problem der Aufschieberitis. Wie erkennt man, dass man tatsächlich darunter leidet? Welche Tricks gibt es, unangenehme Aufgaben doch anzupacken?

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Wer an Prokrastination leidet, schiebt Aufgaben immer wieder auf. Psychologin Julia Elen Haferkamp erklärt im Interview, wie die Familie dabei helfen kann, die Störung in den Griff zu bekommen.

 

Frau Haferkamp, ist Aufschieben grundsätzlich schlecht?

Sporadisches Aufschieben ist zunächst einmal ein ganz normales Verhalten. In einer Umfrage unter Studierenden hat man herausgefunden, dass nur zwei Prozent nie aufschieben. Das ist also ein Verhalten, das jeder von sich kennt.

Und manchmal eine Notwendigkeit?

Absolut. Man muss unterscheiden zwischen Aufschieben und Prioritätensetzen. Wenn man zu einer Aufgabe Ja sagt, sagt man automatisch Nein zu einer anderen. Wenn es gelingt, flexibel auf die Situation zu reagieren und man selbst nicht unter der Situation leidet, dann ist es erst mal unproblematisch. Wenn jemand merkt, dass es sein Wohlbefinden nachhaltig beeinträchtigt, dann ist es ein Problem.

Julia Elen Haferkamp Foto: Studierendenwerk Stuttgart

Würden wir dann von Prokrastination sprechen?

Unter Prokrastination versteht man das wiederholte und unnötige Aufschieben von Aufgaben, die einem persönlich besonders wichtig sind. Wir schieben sie auf, obwohl wir wissen, dass das Verhalten nicht gut für uns ist. Prokrastination geht häufig mit einem schlechten Gewissen einher. Meistens kreisen die Gedanken um die zu erledigende Aufgabe. Die betroffene Person will mit der Aufgabe beginnen und schafft es trotzdem nicht.

Aber Prokrastination ist nicht mit Faulheit zu verwechseln, oder?

Prokrastination hat überhaupt nichts mit Faulheit zu tun. Prokrastination ist ein ganz aktiver Prozess, bei dem wir versuchen, die unangenehmen Gefühle, die mit einer Aufgabe einhergehen, zu vermeiden. Außerdem spielt die eigene Bewertung eine ganz große Rolle. Die Betroffenen würden sagen: Ich leide unter meinem Verhalten. Bei der Faulheit geht es der Person beim Nichtstun eigentlich gut, sie fühlt sich ganz wohl damit, an nichts denken zu müssen. Und das ist der große Unterschied.

Wenn es uns mit dem Prokrastinieren schlecht geht, warum schieben wir Aufgaben auf?

Die Gründe können sehr vielfältig sein. Ich nenne als Beispiel gerne die Steuererklärung oder das Lernen für Prüfungen. Das sind Aufgaben, die müssen wir erledigen, aber sie lösen bei uns vielleicht Abneigung aus, sind monoton, komplex oder langweilig. Das führt dazu, dass wir sie nicht gerne erledigen. Es kann auch sein, dass wir nicht wissen, wo wir anfangen sollen. Wir schieben Dinge vor allem auf, weil wir merken, dass erst einmal nichts Schlimmes passiert. Vielleicht erledigen wir dafür eine angenehmere Aufgabe, die uns einen schnelleren Erfolg bringt. Dadurch fühlen wir uns zunächst besser. Und bei Aufgaben, die wir schon sehr lange aufgeschoben haben, ist die Hürde sie anzufangen, noch mal höher.

Weil man nicht weiß, was einen erwartet?

Genau. Es gibt Personen, die vermeiden es, Briefe zu öffnen, weil sie Angst davor haben, was in den Briefen stehen könnte, beispielsweise offene Rechnungen oder Mahnungen. Und das kann dann auch zu schwerwiegenden Konsequenzen führen.

Und Folgen für die gesamte Familie haben . . .

Natürlich. Wenn es um Aufräumen geht, kann das zu Streitigkeiten führen, weil es für die eine Person wichtiger ist als für die andere – dann würde man nicht unbedingt von Prokrastination sprechen. Aber um bei den Briefen zu bleiben: Das kann auch finanzielle Folgen haben. Dann hat das eine ganz andere Reichweite. Das kann dazu führen, dass Betroffene gar nicht mehr berichten, welche Konsequenzen vielleicht schon eingetreten sind. Und das führt manchmal auch dazu, dass sie ein richtiges Lügengerüst aufbauen, weil dieses Verhalten eben auch sehr schambesetzt ist.

Wie merken wir, ob wir unnötig aufschieben?

Was man gut alleine machen kann, ist die eigenen Gedanken zu überprüfen. Wenn man sagt: Morgen ist auch noch ein Tag, ich habe ja noch genug Zeit, jetzt lohnt es sich auch nicht mehr anzufangen, ich bin zu müde, zu unkonzentriert, sollte man sich zunächst fragen, ob diese Gedanken als Entschuldigung dienen sollen, um nicht an der Aufgabe arbeiten zu müssen. Kann man diese Frage mit einem Ja beantworten, sollte man sich überlegen, welche Gründe für die Erledigung der Aufgabe sprechen. Häufig denkt man sich: Ich muss in der idealen Verfassung sein, um mit der Arbeit anzufangen. Da muss man sagen: Ideale Arbeitsbedingungen gibt es nicht, das ist ein Mythos.

Wenn jemand selbst merkt: Ich neige zum Prokrastinieren. Wie kann die Person, auch mit der Unterstützung der Familie, einen Weg herausfinden?

Wichtig sind Routinen und Strukturen. Die Familie kann helfen, indem man Absprachen trifft, um Verbindlichkeiten zu schaffen. Je konkreter wir eine Aufgabe planen, desto wahrscheinlicher ist es auch, dass wir die Aufgabe erledigen. Ganz wichtig ist es festzulegen, wann und wo will ich mit der Aufgabe starten und beispielsweise mit einem Wecker einläuten, dass es losgehen soll. Ein kleines Ritual kann den Einstieg erleichtern, indem man Ablenkungen, wie Handys, ausschaltet, sich eventuell Essen und Trinken bereitstellt und alles, was man noch brauchen wird. Der Wecker klingelt noch mal, und man legt los.

Ist die Stimmung erst einmal getrübt, wie kommt wieder Ruhe und Gelassenheit in das Familienleben?

Wenn jemand tatsächlich unter Prokrastination leidet, ist es wichtig, dass sich die restliche Familie zunächst vor Augen führt, dass die betroffene Person das nicht macht, um andere zu ärgern. Es ist ein Verhalten, aus dem sie selbstständig nicht mehr rauskommt. Statt sich für vergangenes Verhalten gegenseitig Vorwürfe zu machen, sich gemeinsam zu überlegen: Wie können wir das zusammen in den Griff bekommen? Und gleichzeitig durch gemeinsame Aktivitäten außerhalb von zu Hause schöne Erlebnisse schaffen, damit man Positives miteinander teilt.

Und wann ist es sinnvoll, sich professionelle Hilfe zu holen?

Viele berichten, dass es wie eine Lose-lose-Situation ist. Man nimmt sich vor, die Aufgabe zu erledigen, sagt deshalb vielleicht auch schöne Termine ab und macht letztendlich beides nicht. Man erledigt die Aufgabe nicht, hat deshalb Misserfolge, kann seine persönlichen Ziele nicht erreichen und hat gleichzeitig auch keine angenehmen Erlebnisse mehr, weil man es sich nicht gönnt. Daraus kann sich eine Depression entwickeln. Spätestens dann ist es wichtig, sich professionelle Hilfe zu suchen.

Damit sich das wiederholte und unnötige Aufschieben nicht in den Alltag einschleicht: Was kann die Familie vorbeugend tun?

Ein gemeinsamer Wochenplan kann hilfreich sein, wo genau definiert ist, welche Aufgaben zu erledigen sind, wer wann was übernimmt und sich gegenseitig unterstützen, indem man sich daran erinnert, was demnächst ansteht. Außerdem hat Visualisierung einen guten Effekt. Was ich hierfür sehr schön finde, ist ein Glas mit Murmeln; eine Murmel für jede Aufgabe in der Woche. Jedes Mal, wenn eine Aufgabe erledigt ist, wandert eine Murmel in ein zweites Glas. Wenn alle Murmeln im zweiten Glas sind, dann darf man sich belohnen, zum Beispiel, indem man einen schönen Ausflug miteinander macht oder essen geht.

Zur Person

Julia Elen Haferkamp
ist Psychologische Psychotherapeutin und Mitarbeiterin an der Psychotherapeutischen Beratungsstelle des Studierendenwerks Stuttgart. Zwischen 2012 und 2020 arbeitete sie in der Spezialambulanz für Prokrastination der Psychotherapie-Ambulanz am Fachbereich Psychologie der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster. In den Jahren 2019 bis 2020 war sie niedergelassene Psychologin im Münsterland. Sie ist seit mehreren Jahren als Dozentin tätig und leitet Workshops und Trainings mit den Schwerpunkten Arbeitsstörungen und Prokrastination.