Da drinnen kommt lange keine Tankstelle mehr. Die Straße wird immer enger und bergiger und kurviger. Wer dort unter keine Lawine und unter keine Mure kommt, dem geht das Benzin aus. Wegen der Benzinkrise will auf einmal keiner mehr volltanken. Die Benzindiebe saugen den Treibstoff mit einem Schlauch aus den Autotanks. Darum verkaufen wir jetzt versperrbare Tankdeckel. Die versperrbaren Tankdeckel hängen neben den Zündkerzen, die den Pirellikalender verdecken. Viele tanken nur noch zwanzig Liter oder für 100 Schilling. Dann kommen sie zu Fuß zu mir. Verschwitzt und verdurstet im Sommer, halb erfroren im Winter. Benzin ausgegangen. Irgendwo da drinnen, wo sehr lange keine Tankstelle mehr kommt. Wo nur noch der Spitzy auf dem Hochstand wartet. Vorher tanken sie nicht, und jetzt kommen sie zu Fuß und sind angefressen. Da muss ich einmal schauen, ob wir noch einen Reservekanister haben, sage ich mit besorgter Miene. Obwohl wir noch drei im Büro und zwanzig im Lager haben.

 

Der Scheel kommt nie zu Fuß. Aber auch nie mit dem Mercedes. Er putzt die winzig kleine Windschutzscheibe der orangen Ente selbst. Natürlich macht er einen Wasserstreifen. Das sieht furchtbar aus. Aber das Scheibenputzen gibt ihm die Möglichkeit, den anderen Tankkunden den Rücken zuzuwenden. Er will weder gefilmt noch fotografiert noch angequatscht werden. Am liebsten will er nicht einmal erkannt werden. Hauptsächlich kenne ich den Scheel so seitlich von hinten, und wie lustig sich seine weißen Haare beim Hals kräuseln. Der will eben auch einmal seine Ruhe im Urlaub. Den Pirellikalender kriegt so einer natürlich nicht gezeigt.

 

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"Bist du ein Mädchen?"

Der Chef

An seiner rechten Hand hat der Chef nur zwei Finger. Die drei mittleren hat er im Krieg gelassen. In Skandinavien abgefroren. Seine Fingerzange ist ideal, um verklemmte oder zugefrorene Tankdeckel aufzukriegen. Und um lässig zu rauchen, die Filterlose zwischen Daumen und kleinen Finger geklemmt. Natürlich nicht, während er den Tankdeckel öffnet. Da wären schnell die restlichen Finger auch weg. Und die Hand und der ganze Chef und ich auch.

Der Chef kommt aber nur selten aus seinem Haus heraus. Wenn mehr als drei Autos zugleich da sind. Was ist das nur mit den Leuten, zuerst kommt stundenlang keiner, dann alle auf einmal. Drei schaffe ich leicht allein. Da kommt man noch nicht ins Schwimmen. Vier würde ich auch schaffen. Aber sobald ein viertes Auto einbiegt, dackelt der kleine Chef in seiner Knickerbocker unter dem blauen Arbeitsmantel aus dem Haus, legt die Filterlose auf der Stufe zum Shopeingang ab und öffnet mit der Fingerzange den Tankdeckel. Ich überreiche ihm die Brieftasche, damit er seinem Rang entsprechend kassieren kann. »Die zwei Schilling sind für das Mädchen«, sagen die Kunden beim Zahlen zu ihm. Diese Arschlöcher ahnen nicht einmal, dass sie es bei mir mit dem Herrn über den Pirellikalender zu tun haben.

»Grüß Gott, Super voll?«

Alle Kunden werden gleich begrüßt. »Grüß Gott, Super voll?«, versuche ich mit möglichst tiefer Stimme zu sagen. Ob es an den Benzindämpfen liegt, dass der verdammte Stimmbruch nicht daherkommt? Oder bei einer alten Karre: »Grüß Gott, Normal voll?« Normal ist schwieriger mit tiefer Stimme zu sagen als Super. Vor der Ölkrise tanken alle voll. Sobald die Benzinpumpe einmal surrt und das Zählwerk flattert, ist es Zeit für die Frage aller Fragen. Mit tiefergelegter Stimme sage ich: »Öl, Wasser, Luft, alles in Ordnung?« Das Scheibenputzen ist natürlich das Wichtigste. Zuerst mit dem harten Schwamm die Insektenleichen herunterkratzen. Und dabei nicht die Antenne verbiegen. Dann mit dem weichen Schwamm. Dann mit dem Gummi das Wasser abstreifen. Da zeigt es sich. Mit einem festen Zug, dass keine Wasserstreifen bleiben! Ein Wasserstreifen ist die größte Schande für einen Tankwart. Und mit dem Papier noch das abgestreifte Wasser vom Lack tupfen. Da rollt der Rubel.

Wenn der Scheel einmal selbst kommt, dann nicht mit dem Mercedes. Sondern mit der Ente. Die gehört seiner Frau, der Mildred. Aber die Mildred kommt nie tanken, die tankt nicht gern. Der Scheel kratzt immer nur zwei Schilling Trinkgeld aus seinem kleinen, halbrunden Geldtäschchen zusammen. Manchmal zweifünfzig oder drei. Er ist aber trotzdem in Ordnung. Wenn die deutschen Touristen ihn erkennen, nickt er ihnen freundlich zu.

Keilriemen, Wischerblätter, Batterien, Biluxbirnen, Frostschutz

Der Tankstellenshop ist winzig klein. Er heißt auch nicht Shop, sondern Büro. Eingezwickt vom Autozubehör sitzt man am Kassatisch und starrt auf die Straße. Beim stundenlangen Warten kommt einem der Verdacht, dass die hin und her fahrenden Autos nur so lange kreisen, bis sie mich wieder mit leerem Tank besuchen dürfen. Das Zubehör verströmt einen sehr guten Geruch. Nur am ersten Tag ist mir schlecht geworden, seither riecht es gut. Keilriemen, Wischerblätter, Batterien, Biluxbirnen, Frostschutz, Poliermittel, Schwämme, Ölflaschen, Reservekanister. Der Kartonhänger mit den Zündkerzen ist etwas über meiner Augenhöhe an einem Nagel befestigt und kann leicht abgenommen werden. Dann kommt der Pirellikalender zum Vorschein. Aber den zeigt der Chef nur ausgewählten Kunden. Er nimmt mit Daumen und Zeigefinger seine Filterlose aus dem Mund, legt sie in den Durex-Aschenbecher und hängt den Zündkerzenhänger ab. Mir sagt er, dass ich wegschauen muss, zwinkert mir aber hinter dem Rücken des Kunden grinsend zu, während der Kunde mir hinter dem Rücken des Chefs zuzwinkert. Das Jahr hat viele Monate zu begutachten.

 

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Meistens ist nichts los. Die Autos fahren unermüdlich hin und her. Nach rechts geht es hinaus, nach links geht es hinein. In die Berge. Da drinnen leben ein paar Millionäre mit komischen Namen. Die Millionäre sind von draußen. Der Minister Scheel aus Deutschland, der Mister Mars aus Amerika. Der Spitzy ist aus Argentinien angereist. Das ist ein großer Nazi gewesen, raunen die Leute. Der hat sich lange in Argentinien versteckt. Dann hat er da drinnen die Wasserleitung gebaut. Ich warte darauf, dass er meinem Chef einmal die drei Finger vorbeibringt. Aber der Spitzy kommt nie. Der geht gern in den Wald. Der wartet auf dem Hochstand auf den Bock. So wie ich im Büro auf die Finger warte.

Der Mister Mars kommt auch nie tanken. Aber ich komme einmal zu ihm. Als heiliger Dreikönig. Grüß Gott, wir sind die Heiligen aus dem Morgenland und sammeln für die armen Kinder aus Afrika. Zu den Millionären traut man sich nicht so leicht hinein. Klingeln wir einfach einmal, vielleicht macht er uns auf, sprechen wir uns gegenseitig Mut zu, Könige unter sich. Der Scheel macht uns nicht auf, der ist irgendwo bei der Energiekrise. Der Nazi Spitzy macht uns auch nicht auf. Der sitzt mit der Flinte auf dem Hochstand. Ich wäre neugierig, wie so einer aussieht. Der hat hier alles gebaut, die Wasserleitung und alles. Vielleicht ist er doch da und hat uns lachen gehört, weil wir den Namen so lustig finden vom Nazispitzy. Aber nur der Mars lässt uns hinein. Für die armen Kinder aus Afrika lässt der nicht viel springen. Er hat es vielleicht nicht richtig verstanden. Der glaubt, wir wollen etwas für uns. Und schenkt jedem einen Stiefel mit Schokoriegeln. Ein Mars, ein Bounty, ein Nuts, ein Milky Way. Das gehört alles dem, riesige Schokoladenfabriken in Amerika. Aber das Bounty hätte er sich behalten dürfen. Während wir durch den Schnee zum nächsten Bauernhof stapfen, um für die hungernden Kinder in Afrika zu sammeln, mampfen wir alles auf. Dabei sollte ich dringend abnehmen.

Die orangene Ente

Da drinnen kommt lange keine Tankstelle mehr. Die Straße wird immer enger und bergiger und kurviger. Wer dort unter keine Lawine und unter keine Mure kommt, dem geht das Benzin aus. Wegen der Benzinkrise will auf einmal keiner mehr volltanken. Die Benzindiebe saugen den Treibstoff mit einem Schlauch aus den Autotanks. Darum verkaufen wir jetzt versperrbare Tankdeckel. Die versperrbaren Tankdeckel hängen neben den Zündkerzen, die den Pirellikalender verdecken. Viele tanken nur noch zwanzig Liter oder für 100 Schilling. Dann kommen sie zu Fuß zu mir. Verschwitzt und verdurstet im Sommer, halb erfroren im Winter. Benzin ausgegangen. Irgendwo da drinnen, wo sehr lange keine Tankstelle mehr kommt. Wo nur noch der Spitzy auf dem Hochstand wartet. Vorher tanken sie nicht, und jetzt kommen sie zu Fuß und sind angefressen. Da muss ich einmal schauen, ob wir noch einen Reservekanister haben, sage ich mit besorgter Miene. Obwohl wir noch drei im Büro und zwanzig im Lager haben.

Der Scheel kommt nie zu Fuß. Aber auch nie mit dem Mercedes. Er putzt die winzig kleine Windschutzscheibe der orangen Ente selbst. Natürlich macht er einen Wasserstreifen. Das sieht furchtbar aus. Aber das Scheibenputzen gibt ihm die Möglichkeit, den anderen Tankkunden den Rücken zuzuwenden. Er will weder gefilmt noch fotografiert noch angequatscht werden. Am liebsten will er nicht einmal erkannt werden. Hauptsächlich kenne ich den Scheel so seitlich von hinten, und wie lustig sich seine weißen Haare beim Hals kräuseln. Der will eben auch einmal seine Ruhe im Urlaub. Den Pirellikalender kriegt so einer natürlich nicht gezeigt.

 

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"Bist du ein Mädchen?"

Sind gerade Touristen an einer der anderen Zapfsäulen, flüstere ich ihnen zu: »Habt ihr schon gesehen, da drüben mit der orangen Ente? Das ist euer Außenminister, der Scheel.« Die zücken sofort ihre Kameras und holen sich ein Autogramm. In meinem ganzen Leben habe ich mich nicht so wichtig gefühlt. Vor Aufregung schnellt meine Stimme in die Höhe: »Öl, Wasser, alles in Ordnung? Luft okay?« Der Minister antwortet mit einer weltberuhigenden Stimme: »Alles in Ordnung.« Der Scheel ist unkompliziert. Unser Bürgermeister ist ein Arschloch. Der alte Großbauer kommt mit seinem Traktor, steigt nicht einmal ab, raucht auf der Tankstelle, gibt nie ein Trinkgeld, lässt sich jedesmal die Reifen kontrollieren und sagt zum Dank: »Lass dir endlich die Haare schneiden, oder bist du ein Mädchen?«

Dabei sehe ich aus wie der schwedische Formel-1-Fahrer Ronnie Peterson, der im Jahr der Energiekrise sein erstes Rennen gewinnt. Zu dem sagt auch keiner, er sieht aus wie ein Mädchen.

Brennwert von Kalorien

Nach der Energiekrise ist Benzin doppelt so teuer wie in den letzten Ferien. Während des Schuljahres bin ich einen Kopf gewachsen und habe zwanzig Kilo abgenommen. Jetzt bin ich auf Augenhöhe mit dem Pirellikalender. Ich habe so viele Kalorien gezählt, dass sogar meine Mathematiknote besser geworden ist. Die Leute erkennen mich nicht mehr. Wo ist das Mädchen vom letzten Jahr, fragen sie. Wie der Chef trage auch ich jetzt einen blauen Mantel. Gegen die Vorschrift. Da kann die Benzinfirma sich auf den Kopf stellen. Ob das Trinkgeld wegen der Benzinkrise geringer ausfällt oder, weil ich nicht mehr wie ein Mädchen aussehe, lässt sich nicht feststellen. Der Scheel ist jetzt Präsident. Als Ronnie Peterson im Benzinfeuer verbrennt, kostet der Liter Super schon viermal so viel wie vor der Benzinkrise. Ich frage mich, ob der Brennwert einer Kalorie mit dem Brennwert eines Benzinfeuers vergleichbar ist.

Der Scheel bleibt genau so lang im Amt wie ich auf der Tankstelle. Bis 1979. »Öl, Wasser, Luft, alles in Ordnung?«, frage ich ihn immer wieder. »Alles in Ordnung«, sagt der Scheel.