Tal Reichenstein ist ein Extremläufer. Es dürfen auch mal 4000 Kilometer durch die USA sein. Noch vor wenigen Jahren war er ein Couch-Potato mit 40 Kilogramm Übergewicht.

Rems-Murr: Sascha Sauer (sas)

Esslingen - Er lässt sich nicht von Schneestürmen aufhalten. Wüsten und Steppen durchläuft er ebenso furchtlos wie Wolken von Moskitos. Tal Reichenstein läuft und läuft – zuletzt mehr als 4000 Kilometer durch den Westen der USA. „Der Pacific Crest Trail ist mein Traum gewesen“, sagt der 39-Jährige.

 

Vor sieben Jahren hätte der Esslinger nicht mal im Traum daran gedacht, zu Fuß zum nächsten Bäcker zu gehen. Mit knapp 1,80 Meter brachte er 115 Kilogramm auf die Waage. „Zu viel Fernsehen, zu viel Essen und zu wenig Bewegung“, sagt Tal Reichenstein und fasst seinen damaligen Lebensstil zusammen, der ihm rund 40 Kilogramm Übergewicht bescherte. „Wenn ich ein paar Treppenstufen gelaufen bin, war ich völlig außer Atem“, erzählt er. Seine Tante war es schließlich gewesen, die ihn wieder in die Spur brachte. Sie bot ihm eine monatliche Prämie von 100 Euro, wenn er endlich abnehmen würde. „Das hat mich motiviert“, sagt Tal Reichenstein. Er lief los. Seine erste Etappe war drei Kilometer lang, sie führte von seinem Sofa in die Esslinger Innenstadt.

Als hätte er plötzlich Superkräfte in sich entdeckt, lief er immer größere Strecken

Als hätte er plötzlich Superkräfte in sich entdeckt, vergrößerte Tal Reichenstein seinen Radius immer weiter. Der Messtechniker fuhr nicht mehr mit dem Bus von der Arbeit nach Hause, sondern ging die zehn Kilometer zu Fuß. Gleichzeitig stellte er die Ernährung um. Statt Pizza und Schokolade gab es Salat und Vollkornbrot. „Ich wollte nie dick sein, was ich im Spiegel sah, gefiel mir nicht“, sagt er.

Aus Spaziergängen wurden irgendwann Wanderungen. Bis zu 30 Kilometer am Tag ging er durch die Esslinger Weinberge und Wälder – oder auch mal bis auf die Stuttgarter Königstraße und zurück. Sein erster Wanderurlaub führte ihn nach Südtirol: „Ich bin jeden Tag auf den Gipfel eines anderen Berges gestiegen“, erzählt er. Mehr als 2000 Höhenmeter legte er jedes Mal dabei zurück. Tal Reichenstein wollte wissen, was sein Körper leisten kann – und: seine Grenzen spüren. Die Fettpolster am Bauch waren inzwischen geschmolzen.

Der Pacific Crest Trail ist eine der längsten Wanderungen auf dem Planeten

Und dann war da dieser Traum: Den Pacific Crest Trail zu laufen. Mit 4200 Kilometern ist er eine der längsten Wanderungen auf dem Planeten. Er führt von der Grenze Mexikos über Kalifornien, Oregon und Washington bis nach Kanada. Ein Kraftakt für Körper und Psyche. Zur Vorbereitung wanderte Tal Reichenstein den Israel Nation Trail, der etwas mehr als 1000 Kilometer lang ist. Zu dem Land hat er eine starke Verbindung, hatte er doch bis zu seinem 15. Lebensjahr dort gelebt. Er trägt auch einen israelischen Vornamen, der Morgentau bedeutet. „Ich konnte während des Trails wichtige Erfahrungen sammeln“, erzählt er. Was muss alles in den Rucksack? Wie geht das mit dem Zelt? Und welche Kleidung braucht man?

Im März dieses Jahres startete das Abenteuer Pacific Crest Trail. Doch das Wetter machte nicht mit. „Wegen des vielen Schnees kam ich viel langsamer vorwärts als gedacht“, erzählt er. Er lief nicht nur durch Eisregen und Schneestürme, sondern auch gegen die Zeit, denn sein Visum war nur sechs Monate lang gültig. „Nur keine Panik“ und „ein Schritt nach dem anderen“ wurden seine Leitsprüche.

Ein Satellitengerät mit SOS-Funktion ist seine Lebensversicherung

Fast immer war er allein unterwegs. Das Satellitengerät mit SOS-Funktion war seine Lebensversicherung. „Es waren extreme Bedingungen“, sagt Tal Reichenstein. Auf dem Mount Whitney dann der Tiefpunkt. Ein Sturm war aufgezogen, Wind und Schnee peitschten ihm ins Gesicht. „Da habe ich es mit der Angst zu tun bekommen.“ Dicht an einen Felsen gekauert, suchte er Schutz vor dem Wetter. „Da fragte ich mich zum ersten Mal, ob ich zu weit gegangen war.“

Doch er gab nicht auf, marschierte weiter. Mehrmals brachen seine Wanderstöcke, mehrmals rutschte er unfreiwillig Eishänge hinunter, mehrmals musste er aufgeschürfte Hände und Knie verbinden. Aber am Ende erreichte Tal Reichenstein sein Ziel. Und er war glücklich, den Kampf gegen den inneren Schweinehund gewonnen zu haben. „Ich hatte meine Energie endlich wieder gefunden“, sagt er.