Drei Männer und eine Frau sind in diesen Tagen beim Fliegen mit sogenannten Wingsuits tödlich verunglückt. Aber auch andere Extremsportler setzen ihr Leben aufs Spiel. Warum machen sich immer mehr Menschen auf die Suche nach dem ultimativen Kick?

Korrespondenten: Knut Krohn (kkr)

Stuttgart - Stefan Glowacz ist kein Adrenalin-Junkie. Deshalb ist der Extrembergsteiger auch noch am Leben. „Wenn ich zu einer Reise aufbreche, habe ich vorher alles so gut wie möglich geplant“, sagt der 49-Jährige über seine Abenteuer, die ihn immer wieder bis ans Ende der Welt bringen. Man müsse versuchen, das Risiko zu minimieren. Und, unterstreicht der Sportler, enorm wichtig sei die Erfahrung. Sie ist der andere Teil seiner Lebensversicherung. „Ich bin von Kindesbeinen an mit dem Risiko aufgewachsen und habe im Laufe der Jahre ein sehr gutes Gespür dafür entwickelt, was geht und was nicht geht.“

 

Was in seinen Augen gar nicht geht, sind Bungee-Sprünge. Sich allein für den kurzen Kick an einem Gummiseil in den Abgrund zu stürzen, dafür hat Stefan Glowacz nur ein verächtliches Schulterzucken übrig. Er sei auf der Suche nach Augenblicken, „die für mich den wahren Reichtum im Leben bedeuten“, sagt der Bayer. Bei der Vorbereitung für seine Abenteuer mag er ein radikaler Rationalist sein, bei der Erklärung seiner Motivation streift er fast mythische Sphären.

Ist Extremsport eine Art Selbsttherapie?

Heerscharen von Psychologen versuchen zu erkunden, was die Menschen daran reizt, sich in Lebensgefahr zu begeben. Ob sie von einer geheimnisvollen Todessehnsucht befallen sind oder – genau das Gegenteil – besonders intensiv am Leben hängen und es deshalb bis zum letzten Tropfen auskosten wollen. Oder sind es Junkies, abhängig von der Risikodroge und immer auf der Suche nach dem nächsten, noch stärkeren Kick?

Der Psychoanalytiker Gert Semler betrachtet Extremsport als eine Art Selbsttherapie. Die Menschen seien auf der Suche nach Abenteuern, „in denen sie sich beweisen können, dass sie auch in extremen Situationen funktionieren und nicht vor Panik in Ohnmacht fallen“, meint er. Als Lohn für die Überwindung der Angst erwarte die Extremsportler ein Lustgefühl, das sie ohne den entsprechenden Einsatz nicht erreicht hätten. Auf der Suche nach seinen Erkenntnissen diente der Psychoanalytiker sich selbst als Versuchskaninchen. Er sei passionierter Fallschirmspringer, erklärt Semler: „Da war anfangs überhaupt keine positive Erregung dabei. Ich spürte nur Todesangst, und gerade die wollte ich überwinden.“

Der Wunsch nach positiver Erregung

Doch im Gegensatz zu Semler will sein Kollege, der US-Psychologe Michael Apter, von Angst nichts wissen. Alle Menschen hätten das Grundbedürfnis nach starker positiver Erregung. „Was man auf keinen Fall will, ist Angst“, ist er überzeugt. Diese zerstöre das Gefühl der positiven Erregung. Der Extremsportler müsse sich in einer Art von psychologischem Schutzkäfig befinden. Übersetzt in die Welt der Extremsportler heißt das: ein Bungee-Springer weiß um das Risiko des tödlichen Scheiterns – schließt es aber für sich selbst aus. Diese Überzeugung nährt sich nicht nur aus dem Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten, sondern auch aus den technischen Möglichkeiten.

Alles andere als Testosteron-gesteuerte Vollpfosten

In diesem Sinne kann auch die spektakuläre Aktion des Extremsportlers Felix Baumgartner erklärt werden. Denn der ist alles andere als ein Testosteron-gesteuerter Draufgänger. Der Österreicher sprang im Oktober 2012 in 40 Kilometer Höhe aus einem Ballon und raste im freien Fall mit über 1000 Kilometern pro Stunde in Richtung Erde. Baumgartner und sein Team haben sich über Jahre physisch, psychisch und technisch optimal vorbereitet. Das zeigte sich, als der Sturz des Österreichers außer Kontrolle zu geraten schien, er aber die Nerven behielt und auch die körperlichen Fähigkeiten besaß, die lebensbedrohliche Situation zu meistern. Gekostet hat das Abenteuer rund 50 Millionen Euro.

Der boomende Markt an Abenteuersportarten legt nahe, dass in vielen Zeitgenossen ein kleiner Baumgartner schlummert. Denn es gibt immer mehr Menschen, die durch ihre persönlichen Heldentaten im Kleinen versuchen, sich vom langweiligen Alltag abzugrenzen. Dabei reicht ein Marathon als Nervenkitzel längst nicht mehr aus, sondern rangiert eher in der Kategorie „Wellness-Aktion zur Befriedigung des gehobenen sportlichen Ehrgeizes“. Die Grenzen werden nicht zuletzt durch die technische Entwicklung immer weiter nach außen geschoben. Anders formuliert: ein schweres Hollandrad reizt nur wenig, sich steile Abhänge hinunterzustürzen – ganz im Gegenteil zu einem furiosen Ritt auf den neuesten Downhill-Rädern.

Die zweischneidige Rolle der Technik

Die Technik spielt eine zunehmend wichtige Rolle im Spiel mit dem Nervenkitzel. Dabei verschwimmen die Grenzen zwischen Profis und Amateuren zusehends. Jeder kann sich im Sportgeschäft eine Ausrüstung für eine Himalaja-Expedition zulegen. Was spricht also dagegen, sich mit einer solchen Hightechausrüstung nicht zumindest auf die Zugspitze zu wagen? Das ist allerdings eine trügerische Annahme. Im Gefühl dieser teuer erkauften Sicherheit überschätzen wenig erfahrene Sportler ihre körperlichen Fähigkeiten.

Deshalb ist es auch keineswegs überraschend, dass – statistisch gesehen – die gefährlichsten Berge nicht etwa die technisch anspruchsvollsten sind. Das belegen die nackten Zahlen des Schweizer Alpenclubs SAC. Sie zeigen, dass die meisten Unfälle an Bergen wie Matterhorn oder Mönch geschehen, mit „wenig bis ziemlich schwierigen Touren“ und leichten Klettereien bis zum dritten Grad. Das ist eigentlich selbst von wenig begnadeten Alpinisten zu bewältigen. Aus diesem Grund wagen sich so viele an diese Berge und schätzen dabei bisweilen ihre mentalen und körperlichen Fähigkeiten falsch ein. Das kann sich dramatisch rächen – beispielsweise wenn sich das zauberhafte Alpenpanorama bei einem Wetterumschwung plötzlich in eine nur schwer bezähmbare Wildnis verwandelt.