Nazaré in Portugal ist das Wimbledon der Wellen. Die größten Brecher der Erde gibt es hier vor der Küste – bis zu 30 Meter hoch können die Wellen sein. Es ist das Paradies für Big-Wave-Surfer. Es ist lebensgefährlich. Und ein gebürtiger Esslinger ist mittendrin.

Chef vom Dienst: Tobias Schall (tos)

Stuttgart - An einem Oktober-Tag in Nazaré hat Maya Gabeira ein Rendezvous mit dem Tod. Es ist der 23. Oktober 2013. Die Brasilianerin ist eine der besten Big-Wave-Surferinnen der Welt. Sie gehört zu diesen außergewöhnlichen Sportlern auf dem Brett, die weltweit Jagd auf die größten Brecher der Meere machen. An diesem Tag liegt sie vor Nazaré, Portugal, auf der Lauer. Es ist ein mythischer Ort des Surfens. Das Wimbledon der Wellen.

 

Dann kommen sie. Gabeira lässt sich mit dem Jetski in die Welle ziehen, der Ritt beginnt. Es sieht gut aus, aber nur kurz. Das Monster wirft sie ab, es ist zu bucklig, die Welle ist schlecht zu reiten. Sie stürzt, der Knöchel bricht, zwei Riesenwellen brechen über ihr. Ein Monster kommt selten allein. Riesenwellen rollen in Dreier- oder Vierersätzen an (Sets). Die erste Welle ist deshalb tabu, weil die Gefahr zu groß ist, wenn im Falle eines Abwurfs zwei, drei weitere Brecher folgen. Wie bei Gabeira. Lebensgefahr.

Begräbt einen dieses Bergmassiv aus Wasser, kann es das Ende sein. Die Urgewalt von 15 Meter hohen Ungetümen aus Wasser. 500 000 Tonnen wiegt eine Extremwelle, entsprechende Kräfte wirken bei diesen bis zu 70 Kilometer pro Stunde schnellen Wellen. Als wäre ein Tennisball im Vollschleudergang der Waschmaschine gelandet. Man wird ein wehrloser Spielball der Kräfte. „Wipe-out“ nennt sich ein Abgang. Sich klein machen, zusammenrollen, auf keinen Fall panisch werden.

In Nazaré brechen die größten Wellen der Welt

Bei Gabeira ist es zu spät. Sie verliert das Bewusstsein, ihre Rettungsweste wird zerfetzt, fliegt weg. Die Lebensretter im Wasser suchen nach ihr. Sie finden sie nicht. Verschluckt vom Meer. Schließlich wird sie doch noch entdeckt und leblos aus dem Waser gezogen. Am Strand gelingt es, sie wiederzubeleben. Sie hat überlebt.

Maya Gabeira ist jetzt 30 Jahre alt. Sie ist wieder im Ort Nazaré, 100 Kilometer nördlich von Lissabon. Zwei Monate konnte sie nach dem Unfall nicht laufen, zweimal wurde sie an der Bandscheibe operiert. Aber sie macht weiter. Auch im Winter 2016. Zu verlockend ist die Praia do Norte des 15 000-Einwohner-Dorfes. Warum? „Hier brechen einfach die größten Wellen der Welt! Außerdem ist es in Nazaré im Vergleich zu anderen Orten noch relativ leer. Das ist ein großer Vorteil, denn an anderen Spots musst du für jede Welle dieser Größe richtig kämpfen. Hier kannst du dich im Line-up in Ruhe auf deine Welle vorbereiten und sie dann nehmen, wenn du so weit bist. Das gibt mir zusätzlich Sicherheit“, hat sie bei ihrer ersten Rückkehr 2015 gesagt.

In Portugal hat im Oktober die Saison der Monsterjäger angefangen. Wenn draußen über dem Atlantik die Winterstürme toben, sitzen die extremsten Surfer der Welt auf gepackten Koffern. Sie analysieren die Wetterdaten, allzeit bereit aufzubrechen, wenn die Wetterlage so zu sein scheint, dass die Riesen anrollen könnten.

Akribische Vorbereitung ist das A und O

Die Maßeinheit ihres Wirkens sind Fuß: Von 20 Fuß an (circa sechs Meter) spricht man von Big-Wave-Surfen. Eine Handvoll Menschen reitet mittlerweile 20-Meter-Riesen, und sie träumen von Brechern von bis zu 100 Fuß, etwa 30 Metern. Das entspricht einem zehnstöckigen Hochhaus. Big-Wave-Surfer sind Grenzgänger, aber sie sind keine Hasardeure. Wie kein Skispringer auf einer Skiflugschanze beginnt, so stürzt sich niemand in Nazaré in die Fluten, der nicht auch dafür bereit ist.

Sicherheit ist das Wichtigste. Akribische Vorbereitung ist das A und O. Am Strand warten Mediziner und Sauerstoffflaschen, im Wasser Jetski-Piloten als Retter in der Not. Wie bei Maya Gabeira. Extreme Fitness ist überlebenswichtig, um die Wellen, die bockig wie eine schwere Buckelpiste sind, surfen zu können – und im Falle eines Abwurfs überleben zu können. Es geht darum, das Risiko zu minimieren. Nicht die Kontrolle zu verlieren. Techniken zum Überleben werden trainiert, Übungen, um nicht in Panik zu geraten und bei Puls 180 kontrolliert zu bleiben. Surfprofis trainieren für den Ernstfall deshalb auch Atemtechniken, ähnlich denen von Apnoetauchern.

Der beste Big-Wave-Surfer des Planeten

Surfen war mal in Mode, Mitte der 1990er Jahre mit Hardy Krüger jr. und Ralf Bauer in der Windsurf-Serie „Gegen den Wind“, die in Sankt Peter-Ording spielte. Der beliebte Urlaubsort an der Nordseeküste wird gerne als Klein-Hawaii bezeichnet, perfekte Bedingungen zum Windsurfen, die Wellen sind bis zu zwei Meter hoch. Surfen in Deutschland war damals eine Zeit lang modern, der dänisch-niederländische Windsurfer Björn Dunkerbeck wurde durch seine Nutella-Werbung ein Star. Dunkerbeck ist heute 47, und „Gegen den Wind“ wurde vor 20 Jahren eingestellt. Wellenreiten ist heute cool– auch dank des von Marken wie Billabong oder Quiksilver vermarkteten Lifestyles. Big-Wave-Surfer machen etwas anderes: „Am Strand abhängen, ein bisschen kiffen und Party machen – damit hat das nichts zu tun“, sagt Sebastian Steudtner.

Steudtner ist 31 Jahre alt, geboren in Esslingen und der beste Big-Wave-Surfer des Planeten. Der 31-Jährige kann mehr als fünf Minuten die Luft anhalten, 90 Sekunden bei Puls 180. Im Dezember 2014 surfte Steudtner in Nazaré die höchste Welle der Saison (21,6 Meter) und wurde zum zweiten Mal nach 2010 mit dem XXL Global Big Wave Award ausgezeichnet, dem Oscar der Surf-Industrie. Diese Trophäe wird für den Ritt der höchsten Welle verliehen. Beobachter dachten, dass es sogar die größte je gesurfte Welle war, mit mehr als 24 Metern. Die Bilder deuten darauf hin, die (von einigen angezweifelten) offiziellen US-Messungen bestätigen das aber nicht.

Immer wieder kommt es zu schweren Unfällen

Wasser war von klein an sein Element, der Wunsch zu surfen wurde immer größer. Steudtner, aufgewachsen in Nürnberg, brach mit 16 die Schule ab und ging auf ein spezielles Internat nach Hawaii, um den Sport zu erlernen. Dort eroberte er sich einen Platz in der Surf-Szene, erst als Windsurfer, dann als Big-Wave-Sportler. Am legendären Surfspot Jaws lernte er, die Riesen des Ozeans zu reiten. Die Wellen dort gehören zu den tödlichsten der Welt. Immer wieder kommt es zu schweren Unfällen. Was ist das für ein Gefühl, eine 20-Meter-Welle zu reiten? „Es ist Angst. Es ist Respekt. Du fühlst dich klein. Du fühlst dich mächtig. Es ist alles. Es ist unbeschreiblich“, sagt er. Das Meer lehrt Lektionen in Demut. „In einer 20-Meter-Welle steckt das Gewicht von 500 000 Tonnen. Mit meinen 75 Kilogramm bin ich ein kleines, unwichtiges Teil, das weniger wiegt als der Müll, der im Ozean schwimmt.“

Steudtner jagt auch diesen Winter den Weltrekord von Garrett McNamara. Der US-Surfer, in der Szene GMAC genannt, surfte 2011 in Nazaré einen 78-Footer, eine Welle, 78 Fuß hoch (23,8 Meter). Bis heute ist das die höchste offiziell gerittene Welle. 2015 soll er hier sogar eine 100 Fuß hohe Welle bezwungen haben (30,5 Meter), die Bilder von dem Ritt sind faszinierend und beängstigend zugleich angesichts der Gewalt dieses Giganten des Wassers. Das Foto ging damals um die Welt, eine ikonische Aufnahme (siehe Bild auf dieser Seite). Offiziell bestätigt wurde die Höhe aber nicht. McNamara, mittlerweile 49 Jahre alt, hat Nazaré 2011 entdeckt und mit seinem Rekord populär gemacht. GMAC vergleicht ihn mit anderen legendären Big-Wave-Spots: „Wenn du Jaws, Puerto Escondido und Waimea nimmst und sie auf Steroide setzt, dann hast du Nazaré.“

Der Grund für die ungewöhnliche Wellenbildung ist ein Unterwasser-Canyon. Dieser Tiefseegraben vor der Küste hat eine maximale Tiefe von 5000 Metern und ist etwa 230 Kilometer lang. Zum Strand hin verengt er sich fast rechtwinklig. Bei entsprechenden Stürmen drückt der Westwind das Wasser durch diesen Trichter. Es können sich Riesenwellen bilden. Maya Gabeira sagt: „Wovor ich in Nazaré Angst habe, sind die schiere Brutalität der Wellen und das nahe Cliff. Die Welle ist hier unberechenbarer als alle anderen Big-Wave-Spots auf der ganzen Welt.“ Dieser Tage liegt sie vor Nazaré wieder auf der Lauer.