Der Senkrechtstarter Fabian Müller ist beim Pianistenfestival in Böblingen aufgetreten – dort, wo seit zwei Jahrzehnten Stars und Nachwuchskünstler der Klavierszene Konzerte geben. Warum kommen sie ausgerechnet hierher?

Böblingen - Das Stück ist unmöglich. Die 1913 fertig gestellte „Concord Sonata“ des großen Experimentators unter den US-amerikanischen Komponisten, Charles Ives, ist eine musikalische Geröllhalde voller Fundstücke aus vorangegangenen Jahrhunderten, eine wilde Collage aus Alt und Neu, bizarres Raritätenkabinett der Formen und Klänge. Lange galt das Werk, dessen vier Sätze vier amerikanischen Schriftstellern und Philosophen gewidmet ist, als unspielbar, und es spricht für die Qualität der heutigen Pianistenausbildung, dass dieser Ruf heute Geschichte ist.

 

Fabian Müller hat Ives’ zweite Klaviersonate im Böblinger Kongresszentrum gespielt. Der 29-Jährige ist, nachdem er dem Publikum im Württembergsaal zunächst mit dem Mikrofon in der Hand souverän einige Einstiegshilfen geboten hatte, spielend ebenso souverän über das Klanggeröll geschritten; er hat, obwohl ihm die Mechanik und die Basswucht des dortigen Sauter-Flügels hörbar nicht vertraut waren, mit großer Klarheit Tontrauben platziert oder auch unterschiedliche Rhythmen gegeneinander laufen lassen, mit sehr variablem Anschlag unterschiedliche Klangqualitäten geschaffen und immer wieder auch das pochende Schicksalsmotiv Beethovens gleichsam aus dem Klanggebirge herausgemeißelt, das Ives hier fast als eigenes Signet benutzt. Das Publikum folgt dem Pianisten gebannt: Über 50 Minuten hinweg ertragen gut dreihundert Zuhörer, darunter achtzig Prozent Abonnenten, nicht etwa nur eine immer noch unerhört zeitgenössisch wirkende Musik, sondern folgen ihr mit Spannung. Eine Selbstverständlichkeit ist das nicht.

Fabian Müller ist zum ersten Mal in Böblingen. Dass er eingangs dafür dankt, bei diesem „tollen Festival“ dabei sein zu dürfen, mag ein wenig Charme-Offensive sein. Es ist aber schon so, dass man in der Szene den Pianistentreffpunkt kennt, dessen Grundlage vor gut zwanzig Jahren der Journalist Ulrich Köppen gemeinsam mit zwei befreundeten Klavierspielern legte. „Es kann“, sagt Köppen, bis heute künstlerischer Leiter des Festivals, „doch nicht sein, dass die wohlhabenden Leute in Böblingen zum Konzertbesuch immer nach Stuttgart fahren müssen.“

Abende „jenseits des Mainstreams“ wolle man beim Böblinger Pianistenfestival außerdem bieten, Konzerte „mit Überraschungseffekt“. Die Tatsache, dass die Festivalprogramme außerdem mit Vorliebe unter einem verbindenden Thema stehen (für 2019: „Amerika“), führte nicht nur zu einer Gesamtaufführung sämtlicher Beethoven-Sonaten durch acht verschiedene Pianisten, sondern außerdem zu einer entsprechenden CD-Edition. Auch mit dieser erregte die Reihe Aufmerksamkeit, die seit Jahren eng mit dem Geza-Anda- und dem Wiener Beethovenwettbewerb zusammenarbeitet. Etliche erste und zweite Preisträger von dort haben sich seither in Böblingen vorgestellt – und das Renommee eines Festivals gesteigert, das fehlendes Großstadtgefühl mit intimer Wohlfühlatmosphäre aufwiegt – etwas plüschig vielleicht, aber ausgesprochen nahbar. „Werbung“, sagt Ulrich Köppen, „brauchen wir nicht. Wir bieten fünf Konzerte im Januar und Februar, und in den Monaten danach entsteht die Nachfrage.“

Termine An diesem Freitag, 1. 2., tritt Sahun Hong in Böblingen auf, am 8. 2. Evgenia Rubinova und Evgeny Konnov. Informationen: www.pianistenfestival-bb.de