Die niederländischen Profis sind durch einen der schlimmsten Stürze in der Radsport-Geschichte für immer miteinander verbunden. Bei der Tour de France haben beide eine Etappe gewonnen – und ignorieren sich, so gut es geht.

Der Sport ist auch deshalb so faszinierend, weil er mehr zu bieten hat als Siege und Niederlagen. Große Dramen zum Beispiel, aber natürlich auch Geschichten, die man sich selbst mit viel Fantasie nicht ausdenken könnte. Und manchmal sogar beides zusammen. Wie im Falle von Fabio Jakobsen und Dylan Groenewegen.

 

Die beiden Niederländer sind Radprofis, sie gehören zur Weltelite der Sprinter. Obwohl die Tour de France erst drei Tage läuft, hat jeder von ihnen schon eine Etappe gewonnen. Darüber geredet haben sie nicht. Jakobsen und Groenewegen ignorieren sich, so gut es geht, ihr Verhältnis als unterkühlt zu beschreiben wäre eine Untertreibung. Was an einem Ereignis liegt, das sie für immer miteinander verbinden wird.

Körper, Räder und Trümmer wirbeln durch die Luft

Der Tag, an dem das Schicksal den Radsport mal wieder im Eiltempo überrollte, liegt fast zwei Jahre zurück. Am 5. August 2020 endet die erste Etappe der Polen-Rundfahrt in Kattowitz. Nach der mehr als viermonatigen Corona-Auszeit sind die Fahrer überehrgeizig, aber ohne Rennpraxis. Das Finale ist hektisch, die Zielgerade abschüssig. Die Sprinter beschleunigen auf Tempo 80, als es passiert: Groenewegen drängt Jakobsen in Richtung der Bande, der Niederländer kracht in die Absperrgitter. Anschließend wirbeln Körper, Räder und Trümmer durch die Luft, es ist fraglos einer der schlimmsten Stürze in der Geschichte des Radsports – nach dem ein Profi um sein Leben kämpft.

Fabio Jakobsen erleidet schwerste Gesichtsverletzungen mit zahlreichen Knochenbrüchen, in seinem Mund ist nur noch ein Zahn übrig geblieben. Zwei Tage liegt er im künstlichen Koma, erst danach gilt die allergrößte Gefahr als gebannt. Es folgen zahlreiche Operationen. Die Ärzte formen aus Teilen seines Beckens einen neuen Kiefer, das zertrümmerte Gesicht wird mit 130 Stichen genäht. „Es gab dunkle Phasen, in denen ich Angst hatte, es nicht zu schaffen“, sagt Jakobsen später, „mir wurde ein zweites Leben geschenkt.“ Als Mensch. Und als Sportler.

Zurück in der Weltspitze

Der Niederländer schuftete im Kraftraum und auf der Rolle, bis ihm gelang, was kaum jemand für möglich gehalten hatte: erst die Rückkehr aufs Rad, dann in die Weltspitze. Er fühlt sich so stark wie vor dem Sturz, was auch mental eine immense Leistung ist. Jakobsen (25) zeigt in Massensprints keine Angst, zieht nicht zurück, setzt die Ellbogen ein, kämpft um jede Position. Wie am Samstag in Nyborg. „Es war ein langer Weg, aber ich bin ihn Schritt für Schritt gegangen“, sagte er nach seinem ersten Tour-Etappensieg, „ich bin glücklich.“ Auch wenn ihm nicht alle Konkurrenten gratuliert haben.

Der schlimme Unfall von Kattowitz hat auch das Leben von Dylan Groenewegen (29) verändert. Er galt als Verursacher. Als Bösewicht. Als Täter. Fabio Jakobsens Quickstep-Teamchef Patrick Lefevere sprach davon, dass Groenewegen in den Knast gehöre, in den sozialen Medien wurde er beschimpft. Groenewegen selbst berichtete, sogar Morddrohungen im Netz erhalten zu haben. Der Radsport-Weltverband UCI sperrte ihn für neun Monate.

Keine Freunde mehr

Mit einer ehrlich gemeinten Entschuldigung bei Jakobsen hätte Groenewegen sein Image sicher aufpolieren können, doch die Wahrnehmung eines Treffens neun Monate nach der Polen-Rundfahrt fiel höchst unterschiedlich aus. „Dylan hat keine persönliche Entschuldigung angeboten und keinen Willen gezeigt, Verantwortung für seine Aktionen zu übernehmen. Für eine Verständigung braucht es immer zwei“, erklärte Jakobsen nach dem Treffen, „um die weitere Vorgehensweise werden sich nun meine Anwälte kümmern.“ Bei Groenewegen hingegen hörte sich alles etwas anders an. Er meinte sehr wohl, Sorry gesagt zu haben. Ähnlich hatte er sich schon kurz nach dem Sturz geäußert: „Es tut mir leid, weil ich ein fairer Sportler sein möchte.“

Was wirklich abgelaufen ist? Wissen allein die beiden. Klar ist nur, dass die Niederländer keine Freunde mehr werden. Umso brisanter sind ihre Duelle nun bei der Tour. Denn pikanterweise gelang dort auch Groenewegen – ausgerechnet am Tag nach Jakobsen – ein großer Erfolg: Er gewann die dritte Etappe in Sönderborg. „Ich weiß nicht, ob es der schönste Sieg meiner Karriere war“, antwortete er danach auf die entsprechende Frage, „aber er bedeutet mir sehr viel. Angesichts dessen, was passiert ist, war es mental eine harte Zeit.“ Die noch nicht zu Ende ist.

Schließlich hat sich Jakobsen anschließend doch noch deutlich zu dem Mann geäußert, nach dessen Rempler er mit dem Tod rang. „Vor dem Crash habe ich seine Erfolge bewundert und ein wenig zu ihm aufgeschaut“, sagte er über Groenewegen und den schicksalhaften Tag, „aber das war nach dem Fehler, den er gemacht hat, komplett weg.“