Beim Fachtag „Zwangsverheiratung wirksam bekämpfen“ will das Land von anderen Staaten helfen lernen. Denn das Problem ist global. Die junge Amina kann ein Lied davon singen.

Als Amina 16 war, hörte sie ihren Vater zum ersten Mal den Gelehrten in der Koranschule fragen, wann er denn nach einem Ehemann für seine bald erwachsene Tochter suchen müsse. Kurz vor ihrem 20. Geburtstag zeigte er ihr ein Foto von ihrem künftigen Mann – und wurde wütend, weil sie nicht begeistert war. In den Ferien flog die Familie nach Pakistan; sie unterhielt sich 15 Minuten mit dem Wunschkandidaten ihres Vaters. Sie mochte ihn nicht. Dem Vater war das egal: Seine Tochter sollte keine „westliche Schlampe“ werden. Für ihn war das eine Frage der Ehre. Dabei werden Zwangsverheiratungen in Deutschland mit bis zu fünf Jahren Gefängnis bestraft.

 

Eine Woche später war sie eine Ehefrau und nach den Ferien wieder Schülerin an einem deutschen Gymnasium, die nur eines wollte: Abitur machen und studieren. „Damals kam mir das normal vor“, sagt Amina, die inzwischen 23 Jahre alt ist und eigentlich ganz anders heißt. „Es war nicht das erste Mal, dass ich von meinen Eltern zu etwas gezwungen wurde.“ Heute weiß sie: „Ich habe ein Recht zu leben. Ich habe ein Recht ins Kino zu gehen. Ich habe ein Recht zu entscheiden, welchen Pullover ich tragen möchte.“

Amina wurde bedroht, geschlagen und beinahe getötet

Amina wurde von ihrem Vater bedroht, geschlagen und eines Abends beinahe mit einem Messer getötet – bis sie es wagte, Hilfe zu suchen. Sie brach mit ihrer Familie, kam unter in der Wohngruppe Rosa der Evangelischen Gesellschaft (Eva), in der junge Migrantinnen zwischen 16 und 21 Jahren zusammenleben, die ähnliches erlebt haben wie Amina und sich ein eigenes Leben aufbauen wollen: Notfalls unter neuem Namen, in völliger Anonymität.

Denn Amina ist kein Einzelfall. Mehr als 700 Millionen Frauen leben weltweit in einer Zwangsehe, sagt Birgit Locher-Finke, zuständige Abteilungsleiterin im Sozialministerium in Stuttgart. Mehr als jede dritte dieser Frauen sei bei der Hochzeit nicht älter als 15 gewesen, und „die Dunkelziffer ist hoch“. In Deutschland sind 2021 nur 73 Zwangsehen polizeilich erfasst worden.

Das globale Problem soll international angegangen werden

Dabei handelt es sich mitnichten um ein Problem, das gekoppelt ist an bestimmte Kulturen, Religionen oder Regionen – Amina ist in Deutschland geboren und aufgewachsen. Sondern um global auftretende Menschenrechtsverstöße. In Südamerika weiß man von Zwangsehen innerhalb der High Society und des Hochadels aus Angst, Privilegien zu verlieren.

Die Eva und das Sozialministerium wollen das globale Problem jetzt auch international angehen. Beim Fachtag „Zwangsverheiratung wirksam bekämpfen“ am Donnerstag, 21. Juli, werden erstmals Hilfs- und Präventionsprojekte aus der Schweiz, aus Belgien Großbritannien, Italien, Frankreich, den Niederlanden und Spanien vorgestellt.

Belgien schult seine Standesbeamte

Die Probleme seien überall ähnlich, so Locher-Finke, nicht aber die Art, damit umzugehen. So würden in Belgien Standesbeamte speziell geschult auf Hinweise auf eine Zwangsehe. Die internationalen Krisen, die Dürre in Afrika und regionale Konflikte befeuerten das Problem, sagt Locher-Finke. So gebe es Hinweise, dass etwa im von der Dürre besonders betroffenen Äthiopien doppelt so viele Mädchen zwangsverheiratet würden als davor.

Die Evangelische Gesellschaft arbeitet in Baden-Württemberg seit 20 Jahren an dem Thema. Die Wohngruppe Rosa war bei ihrer Gründung bundesweit einmalig, sagt Dagmar Braun, Abteilungsleiterin bei der Eva. Vor zwei Jahren wurde das neue Angebot Nadia eingerichtet. Dabei handelt es sich um kurzfristige anonyme Wohnplätze für Mädchen und junge Frauen, die von Gewalt im Namen der so genannten Ehre oder von Zwangsehen bedroht sind. Bundesweit einmalig ist dabei, dass Nadia Frauen bis 27 Jahre aufnimmt. Ein wesentlicher Baustein ist zudem die mobile Beratungsstelle Yasemin, die an Schulen, in Behörden und in Ausbildungsstätten für das Thema sensibilisiert.