Das Prinzip „Freie Fahrt für freie Bürger“ hat den Straßenverkehr in den Ballungsräumen in die Sackgasse geführt. Die mobile Gesellschaft braucht deshalb neue Konzepte und ein neues Verhalten, kommentiert der StZ-Autor Michael Maurer.

Stuttgart - Welch ein Gewürge! Die Landesregierung kündigt erst markig Fahrverbote für Dieselfahrzeuge in Stuttgart an, rudert dann zurück und wird an diesem Dienstag wohl beschließen, erst einmal darauf zu verzichten. Stattdessen setzt sie auf die Nachrüstung älterer Dieselfahrzeuge. Das Bundesverkehrsministerium hält Fahrverbote zwar für den „politisch falschen Ansatz“, weist zugleich aber darauf hin, dass trotzdem „temporäre Einfahrverbote“ erlassen werden könnten. Dies widerspricht der Rechtsauffassung im Stuttgarter Ministerium, wonach für eine faktische Verbotszone eine Plakette, vorzugsweise eine blaue, nötig sei. Das wiederum lehnt Berlin ab. Am Mittwoch dann beginnt vor dem Stuttgarter Verwaltungsgericht ein Prozess, bei dem die Deutsche Umwelthilfe die Landesregierung zwingen will, die Luftverschmutzung in Stuttgart konsequenter anzugehen – und dazu beispielsweise Fahrverbote zu verhängen. Der Ausgang? Ungewiss. Bei all dem ist übrigens nur von der Gesundheitsgefährdung durch Stickoxide die Rede, zu der Dieselfahrzeuge beitragen. Die Feinstaubbelastung durch den Gesamtverkehr und der CO2-Ausstoß, der bei Benzinern höher ist als beim Diesel, sind dabei außen vor.

 

Der Stau ist die Regel, freie Fahrt die Ausnahme

Der Wirrwarr illustriert eindrücklich, in welcher Sackgasse wir stecken. Nach wie vor wird erfolglos an den unterschiedlichsten Symptomen einer aus den Fugen geratenen Fokussierung auf die Verwirklichung des Traums permanent freier Fahrt für freie Bürger herumgedoktert. Freie Fahrt gibt es in den deutschen Ballungsräumen – Stuttgart allen voran – nur noch im Ausnahmefall, die Regel ist der Stau. Die Masse an fließendem und stockendem Verkehr wirkt sich negativ auf die Gesundheit vieler Stadtbewohner aus. Diese fühlen sich von den politisch Verantwortlichen im Stich gelassen, und wehren sich vor Gericht.

Doch es ist eine Illusion zu glauben, aus dieser Sackgasse führten partielle Verbote wieder heraus. Wenn es überhaupt einen Ausweg geben kann, dann muss dieser in neuen Formen einer urbanen Mobilität liegen. Natürlich müssen die Städte auch in Zukunft erreichbar sein: für ihre Bewohner ohnehin, für Touristen, für den Handel. Aber sie müssen auch lebenswert sein und dürfen nicht am Verkehr ersticken. Die Konzepte dafür werden seit Langem diskutiert, es gibt viele Versuche, viele Projekte, viele Städte, die sich bereits an die Umsetzung gemacht haben: bessere Radwege, attraktiverer öffentlicher Nahverkehr, mehr Elektrofahrzeuge, Shared Mobility – alles Realität, keine Utopie. Autonomes Fahren wird hinzu kommen, irgendwann auch Robotaxis und vieles mehr.

Buchstäblich neue Wege gehen

Am Ende aber ist nicht allein die Palette an Konzepten und Alternativen zum eigenen Pkw entscheidend. Für Verkehrsplaner wie den Münchner Professor Gebhard Wulfhorst ist „der Konflikt zwischen den individuellen Interessen einzelner Akteure und den gemeinsamen Ansprüchen an den öffentlichen Raum“ die größte Herausforderung. Diese individuellen Interessen in eine Art mobiles Gemeinwohl einzubinden und diesem unterzuordnen, ist der Schlüssel zum Erfolg. Dazu braucht es einen ausgeprägteren politischen Willen als bisher, eine schnellere Umsetzung dieses Willens und ein Umdenken bei Industrie und Handel. Doch selbst wenn es gelingt, einen neuen mobilen Angebots-Mix für Ballungsräume zu schaffen: Er wird nicht mit alten Verhaltensmustern funktionieren. Nur wenn es die Bereitschaft der Bürger gibt, buchstäblich neue Wege zu gehen, kann die urbane Mobilität gesichert und die Lebensqualität gesteigert werden. Dazu ist vor allem die Vernunft des Einzelnen gefragt, nicht der Zwang von außen. Denn genauso wie Politik und Industrie Verantwortung für ihr Handeln übernehmen müssen, muss es auch der mobile Bürger tun. Das droht in der Debatte um Fahrverbote oder Betrügereien der Hersteller unterzugehen.

Das sagen die Bürger in Stuttgart zum Fahrverbot für Dieselfahrzeuge: