Die gegen den Korrespondenten Deniz Yücel verhängte Untersuchungshaft alarmiert die Berliner Politik und führt zu einer Welle des Protests. Hat der Fall das Potenzial, die deutsch-türkischen Beziehungen endgültig in die Krise zu katapultieren?

Berlin - Oben auf dem Berliner Springer-Hochhaus, wo sich, historisch pikant, die Rudi-Dutschke-Straße und die Axel-Springer-Straße kreuzen, prangt seit Dienstag ein riesiges Transparent. „#FreeDeniz“ steht darauf. Gemeint ist damit Deniz Yücel, der Türkei-Korrespondent der im Springer-Verlag erscheinenden Tageszeitung „Die Welt“. Seit nunmehr zwei Wochen sitzt der Journalist, der einst bei den linken Blättern „Jungle World“ und „taz“ beschäftigt war, in einer Istanbuler Zelle. Mit einer richterlichen Entscheidung vom Montagabend ist daraus ganz offiziell Untersuchungshaft geworden.

 

Das Banner hoch über Kreuzberg ist beileibe nicht die einzige Solidaritätsadresse. Aus der anfänglich kleinen Unterstützungsbewegung, die schon am 19. Februar für Yücel einen Autokorso durch Berlin organisierte, ist eine bundesweite, ja fast europaweite Woge des Protests geworden. Auf der Berlinale wurde dagegen protestiert, dass der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan den Vorwurf der Terrorunterstützung gezielt einsetzt, um bis zu 150 missliebige Journalisten in Polizeigewahrsam zu nehmen. Selbst auf einigen Karnevalsumzügen ist gerade die Parole „#FreeDeniz“ zu lesen gewesen, der Hashtag gehört seit Tagen zu den Trends auf dem Kurznachrichtendienst Twitter.

In zwölf Städten waren Autokorsos angekündigt

Der jüngste Richterspruch zu Yücels Untersuchungshaft hat den Dienstag zum bisherigen Höhepunkt des Proteststurms gemacht. Für den Autokorso-Fan Yücel waren bis zum Nachmittag in zwölf Städten entsprechende Fahrten angekündigt – in Berlin, Hamburg, München, Köln, Bremen, Hannover, Frankfurt am Main, Leipzig und Bielefeld, aber auch in Zürich, Wien und Graz. Vor der türkischen Botschaft in Berlin fand am frühen Abend eine Kundgebung mit mehreren hundert Teilnehmern statt – darunter eine Reihe von Politikern wie der Grünen-Chef Cem Özdemir.

„Die Bundesregierung muss sich mit Nachdruck für die Freilassung von Deniz Yücel, aber auch den anderen inhaftierten Journalisten und Oppositionellen einsetzen“, sagte Özdemir dieser Zeitung vor seiner Rede. Ganz ähnlich äußerte sich parteiübergreifend eine große Zahl von Politikern.

Der Fall bringt die Regierung jedenfalls zusätzlich unter Zugzwang. Noch heikler wird damit der ohnehin schwierige Umgang mit der Türkei, die einerseits Nato-Verbündeter, EU-Beitrittskandidat und Kooperationspartner in der Flüchtlingspolitik ist, sich aber andererseits Stück für Stück von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu verabschieden scheint. Ob der Fall Yücel aber zu einer grundlegenden Änderung der deutschen Türkei-Politik führt, blieb auch am Dienstag unklar.

Merkel kritisierte die Entscheidung noch am Montagabend

Dafür spricht möglicherweise die ungewohnt schnelle und harte Wortmeldung der Bundeskanzlerin. Bereits am Montagabend hatte Angela Merkel (CDU) den Richterspruch als „bitter“, „enttäuschend“ und „unverhältnismäßig hart“ kritisiert. Sie erwarte, „dass die türkische Justiz in ihrer Behandlung des Falles Yücel den hohen Wert der Pressefreiheit für jede demokratische Gesellschaft berücksichtigt“. Die Bundesregierung werde sich deshalb, so Merkel, „weiter nachdrücklich für eine faire und rechtsstaatliche Behandlung Deniz Yücels einsetzen“.

In dieses Bild passt die jüngste Aussage von Justizminister Heiko Maas (SPD). „Wir werden den Gesprächsfaden zur Türkei niemals abreißen lassen“, sagte er Yücels „Welt“: „Aber wenn Journalisten mundtot gemacht werden sollen, wenn Richter entlassen und eingesperrt werden, dann ist die Zeit der leisen Töne vorbei.“

Außenminister Sigmar Gabriel nahm den Parteifreund am Dienstag beim Wort. Nachdem der türkische Botschafter zu einem Gespräch mit Staatssekretär Walter Lindner ins Auswärtige Amt gebeten worden war, sprach Gabriel davon, dass „der Fall Yücel alles noch viel schwieriger macht“ in „alles andere als einfachen Zeiten“ für das deutsch-türkischen Verhältnis: „Es steht gerade vor einer seiner größten Belastungsproben in der Gegenwart“, da die „Gutwilligen auf beiden Seiten brüskiert“ würden.

Gabriel sieht sich bestärkt von der Solidaritätsbewegung für Yücel, die einen „sehr großen Bewertungsunterschied“ in den EU-Staaten und der Türkei offenbare. Ob Gabriel damit eine härtere Linie als das Kanzleramt fahren will, bleibt jedoch Spekulation.Gegen einen grundsätzlichen Kurswechsel in der Türkei-Politik spricht zumindest die eher nüchterne Einschätzung aus dem Kanzleramt, die im Falle des inhaftierten Journalisten keine völlig neue Lage erkennen mag. „Erdogan verletzt ständig rechtsstaatliche Prinzipien“, heißt es in hochrangigen Regierungskreisen dort: „Der Fall Yücel ist nur deswegen besonders, weil es einen deutschen Staatsbürger betrifft – es gibt Hunderte vergleichbare Fälle.“ Soll wohl heißen: Wir wussten schon vorher, dass der türkische Neo-Sultan die Pressefreiheit mit Füßen tritt, müssen aber aller Widrigkeit zum Trotz mit ihm als unmittelbarem EU-Nachbarn in Kontakt bleiben.

Wagenknecht: Merkel muss endlich klare Kante zeigen

Schon am Rande der Münchner Sicherheitskonferenz vor gut einer Woche hatte Merkel den Fall ausführlich mit dem türkischen Ministerpräsidenten Binali Yildirim besprochen – ohne bisher etwas bewirkt zu haben.

Der Opposition reicht das Argument, im Gespräch bleiben zu müssen, um überhaupt Einfluss auf Erdogan ausüben zu können, nun erst recht nicht mehr. „Merkel muss endlich klare Kante zeigen“, fordert die Linken-Fraktionschefin Sahra Wagenknecht, deren Partei nächste Woche im Bundestag über den Fall Yücel debattieren will. Neben der Absage von Merkels geplanten Türkei-Besuch im April verlangt die Linke den Abzug der Bundeswehr vom Nato-Stützpunkt Incirlik, einen Stopp von Rüstungsexporten und das Einfrieren der EU-Förderung.

So weit gehen die Grünen nicht, doch führt auch ihr außenpolitischer Fraktionssprecher Omid Nouripour Yücels Inhaftierung darauf zurück, dass bisherige „Grenzüberschreitungen“ der Türkei unwidersprochen geblieben seien – weil sich die Bundesregierung mit dem Flüchtlingspakt in „Geiselhaft von Erdogan“ begeben habe. Der, so Nouripour, verschiebe die roten Linien seither immer weiter.