Weil ein Vater für seinen erwachsenen behinderten Sohn keinen Platz zum Wohnen in einer Einrichtung gefunden hat, hat er für ihn eine WG gegründet. Der Sohn ist nachts beatmet.

Familie/Bildung/Soziales: Viola Volland (vv)

Stuttgart - Es ist ein kleines Zimmer in einer Wohngemeinschaft, in dem Jens Schönknecht seit Februar lebt. Seine Mitbewohner sind angehenden Pflegekräften aus Spanien. „Ja“, antwortet der 41-Jährige auf die Frage, ob es ihm gut geht. Das „Ja“ hört sich ungewöhnlich an. Wenn Jens Schönknecht spricht, schluckt er Luft und rülpst die Silben wieder heraus. Ruktussprache nennt man das. Eine Logopädin hat sie ihm beigebracht.

 

Als Jens Schönknecht elf Jahre alt war, musste ihm infolge eines Ärztefehlers der Zugang vom Rachen zur Luftröhre operativ verschlossen werden. Seine normale Stimme hat er dadurch verloren. Er atmet nicht mehr durch den Mund, sondern durch ein Loch im Hals. Nachts ist er an eine Beatmungsmaschine angeschlossen. Das macht ihn zum Intensivpatienten. Erschwerend kommt hinzu, dass er kognitiv eingeschränkt ist und an orthostatischer Dysregulation leidet: Er fällt manchmal ohne Vorwarnung um.

Das Ziel ist, dass weitere beatmete Patienten einziehen

„Niemand wollte Jens haben“, erzählt sein Vater, Peter-Jürgen Schönknecht den Grund, warum sein Sohn nun in einer selbst organisierten WG und nicht in einer von einem Träger betreuten Einrichtung für behinderte Menschen lebt. Für beatmete Menschen mit kognitiven Einschränkungen gebe es weder in der Region noch im Land Angebote, sagt der 75-Jährige. Gemeinsam mit dem Pflegedienst Schäfercare hat der Architekt im Ruhestand die WG ins Leben gerufen. Hier sollen – so ist das Ziel – irgendwann mehr Menschen einziehen, denen es geht wie seinem Sohn.

Stefan Hacke, der Geschäftsführer von Schäfercare, weist darauf hin, dass es erst seit diesem Jahr gesetzlich in Baden Württemberg ermöglicht wurde, Patienten in Wohngruppen intensivpflegerisch zu betreuen. Er hält das WG-Modell für „zukunftsweisend“. Es ermögliche den Patienten, ein selbstbestimmtes Leben in einer Gemeinschaft zu führen. Würden mehrere Behinderte in einer Wohnung versorgt, sei „trotz schwerer Krankheit ein soziales Leben mit anderen Menschen“ möglich. „Die Herausforderung, in einer selbst organisierten WG besteht darin, Bewohner zu finden, die in gewisser Weise zueinander passen“, so Hacke. Dennoch glaubt er, dass der Bedarf steigt, weil in Zukunft immer weniger intensivpflichtige Patienten bereit sein würden, in ein Pflegeheim oder eine ähnliche Einrichtung zu gehen.

Der Sohn soll langfristig gut versorgt sein

Peter-Jürgen Schönknecht hat schon vor zehn Jahren vergeblich in Stuttgart nach einer Einrichtung gesucht, die seinen Sohn aufnimmt. Ihm ist es wichtig, sich rechtzeitig darum zu kümmern, dass sein Sohn langfristig gut versorgt ist. Jahrelang hatte er selbst die Pflege übernommen, nachdem seine Frau gestorben war. Mit Mitte 60 brachte er Jens schweren Herzens nach München, wo es Angebote für beatmete Menschen mit Behinderung gibt. Wegen Problemen mit dem Pflegedienst und weil sein Sohn dort immer mehr abbaute, holte Schönknecht ihn nach zehn Jahren zurück. „Doch in der ganzen Zeit hat sich in Stuttgart nichts geändert“, kritisiert er. Überall, wo er anfragte, habe er erneut Absagen bekommen: bei den Trägern, bei der Stadt, bei der Behindertenbeauftragten. Der Vater empfindet das als Ignoranz.

Gabriele Reichhardt vom Sozialamt sieht jedoch keinen Bedarf für ein eigenes Angebot. Die Fallmanager aus dem Sozialamt hätten bisher nur mit etwa 15 Fällen zu tun gehabt, „für die man Lösungen finden musste“. Oft handele es sich um sehr komplexe Behinderungen, jeder Fall stelle sich deshalb anders da und müsse individuell angegangen werden. Das selbst organisierte Modell sei so eine Lösung. „Die Regel ist aber, das die Kinder noch zu Hause leben und man mit Pflegediensten arbeitet“, sagt sie. Darüber hinaus nennt sie das Raphaelhaus als Wohnort für beatmete Menschen mit Behinderung in Stuttgart. Dort weist man das zurück. In der Vergangenheit hätten sie zwar eine beatmete Person aufgenommen, aber grundsätzlich sei das nicht möglich, sagt der Geschäftsführer des Raphaelhauses, Kay Wuttig. Das Problem sei die Abrechnung. Steht die medizinische Pflege im Vordergrund, müssten sie absagen. Sie hätten keine entsprechenden Verträge mit den Kassen abgeschlossen. Er kennt nur eine Einrichtung in Hessen, die beatmete Menschen mit Behinderung aufnimmt. „Es gibt hier eine Versorgungslücke, in der Tat“, sagt Wuttig.

Was ist, wenn die Eltern nicht mehr können?

„Wir sind im Vergleich zu München weit hinterher“, meint auch Martin Beitinger, der Leiter der individuellen Schwerbehindertenassistenz der Evangelischen Gesellschaft. Er kennt das Argument, dass es keinen Bedarf gebe. Das stimmt seiner Ansicht nach nicht. „Die leben irgendwie zu Hause bei den Eltern“, sagt Beitinger. Doch was, wenn diese nicht mehr könnten?

Peter-Jürgen Schönknecht ist keiner, der sich von Widerständen einschüchtern lässt. Er hat allein fünf Prozesse geführt, davon vier gewonnen. Einmal reichte die Kraft nicht. Er hat unter anderem Schmerzensgeld dafür erstritten, dass sein Sohn im Kinderkrankenhaus irreparable Hirnschädigungen erlitten hat, weil der Wochenenddienst seine Symptome nicht ernst nahm.

Urlaube mit dem Wohnmobil

Schönknecht versucht, seinem Jens so viel zu ermöglichen, wie es geht. Jedes Jahr fahren die beiden mit dem Wohnmobil in den Urlaub. Sie waren mehrfach beim München-Marathon. Der Vater ist gelaufen, der Sohn im Spezialfahrrad gefahren. „Der risikolose Weg führt nur in die Krankheit“, ist die Erfahrung des Stuttgarters.