In Indien werden über das Internet üble Gerüchte verbreitet – oftmals mit tödlichen Folgen. Auf dem Subkontinent führt die Verbreitung solcher Meldungen immer häufiger zu grausamen Vorfällen von Lynchjustiz.

Stuttgart/Mumbai - Eine Nachricht an Freunde, Verwandte oder Bekannte über den Nachrichtdienst WhatsApp kann in Indien mittlerweile tödliche Folgen haben. Denn auf dem Subkontinent häufen sich die Vorfälle, in denen durch die Verbreitung von Gerüchten und Falschinformationen eine Hysterie entfacht wird, die zu grausamen Vorfällen von Lynchjustiz führt. Vor wenigen Tagen wurden zwei Männer umgebracht, die über WhatsApp fälschlicherweise als Kindesentführer bezeichnet worden waren. Seit diesem Vorfall im nordöstlichen Bundesstaat Assam, versucht die Polizei mit Härte gegen Falschnachrichten in den Sozialen Medien vorzugehen.

 

Die Tat hatte Schockwellen ausgelöst: Der 29-jährige Nilotpal Das und der 30-jährige Abhijeet Nath hatten einen Picknickplatz in der Nähe eines Wasserfalls besucht und waren auf dem Rückweg von zornigen Dorfbewohnern gestoppt worden. Der Mob zerrte sie aus dem Wagen und schlug solange auf sie ein, bis sie tot waren. Laut Behördenangaben waren dem Angriff Telefonate und WhatsApp-Nachrichten vorausgegangen, wonach zwei Kidnapper mit einem schwarzen SUV auf der Flucht seien. Später stellte sich heraus, dass es sich um Gerüchte gehandelt habe. Es ist nicht der erste Vorfall dieser Art, und auch nicht der letzte: Am vergangenen Sonntag wurden in West-Indien fünf Männer aus dem gleichen Grund totgeschlagen.

Schon das ganze Jahr über halten Falschnachrichten über „Kindesentführer“ die Behörden auf dem Subkontinent in Atem, der weltweit zu einem der größten Märkte für Soziale Medien zählt. 200 Millionen Menschen in Indien nutzen bereits WhatsApp, 240 Millionen sind auf Facebook. Rund 1,2 Milliarden Handy-Verträge zählt die indische Telekombehörde, viele Inder besitzen mehrere Verträge, etwa für Datenübermittlung oder für Kommunikation – und  rund 300 Millionen  besitzen ein Smartphone. Im südlichen Bundesstaat Tamil Nadu waren im Mai zwei Personen umgebracht worden, die unter dem Verdacht standen, Kinderhändler zu sein: Ein Mann wurde verprügelt und später an einer Brücke erhängt; eine 63-jährige Frau, die mit Verwandten vom Besuch eines Tempels zurückkehrte, wurde gelyncht, nachdem sie ihren Wagen gestoppt hatte, um Süßigkeiten an Kinder zu verteilen.

Die neue Technik überfordert viele Dorfbewohner

Ritesh Bhatia, staatlicher Ermittler gegen Cyber-Kriminalität, erklärt das Phänomen mit der Reichweitenstärke von WhatsApp, die „gefährlich“ und mitunter lebensbedrohend geworden sei. Für viele Inder geschehe die erste Begegnung mit dem Internet über das Smartphone. Der Datenaustausch sei billig, fast kostenlos, und die Geräte seien es auch: „So hat es eine Überflutung mit Informationen in den Dörfern gegeben.“ Die WhatsApp-Nachrichten verbreiteten sich wie ein Lauffeuer und besonders die von Freunden oder Verwandten verschickten News würden für glaubwürdig erachtet. Dabei könnten gerade Bewohner auf dem Land gar nicht unterscheiden zwischen wahren und falschen Informationen, betont er.

„Die Leute glauben, was ihnen zugeschickt wird – und die Folge ist das Lynchen“, erklärt Govind Ethiraj, Gründer der Agentur Boom Live, die Falschnachrichten bekämpft. Laut Ethiraj findet Boom Live jeden Tag bis zu einem Dutzend Falschnachrichten im Netz, die Hass verbreiten und oft einen lokalen Bezug haben. Aber selbst die Megastädte Indiens sind vor den Gerüchten nicht gefeit: In Kalkutta verbreitete eine Falschnachricht während der Feierlichkeiten zum Ende des Ramadan Chaos. In dieser stand, dass der Staat die Vier-Tages-Feier überwachen werde und sämtliche Behörden und Schulen geschlossen seien.

Selbst in der modernen IT-Metropole Bangalore wurden zwei Menschen gelyncht. Als Ursache wird ein Whats-App-Video vermutet, dass angeblich eine Kindesentführung mit zwei Männern auf einem Motorrad zeigt: Ein Täter greift sich die Kinder und zerrt sie auf den Sozius. Das Video stammt ursprünglich aus Pakistan und ist eigentlich ein Kinderschutzfilm, der eine nachgestellte Szene zeigt, um vor Entführungen zu warnen. Ein Hinweis dazu im Hintergrund war aus dem Filmstreifen hinausgeschnitten worden.

Allein 2017 gab es Hunderte Verhaftungen

Auch politische Parteien nutzen Whats-App zunehmend, um ihre Anhänger zu mobilisieren, radikale Gruppen predigen darin Hass und zielen auf Minderheiten. Nächstes Jahr wird in Indien gewählt und die Empörung über Whats-App wächst allmählich. Der Konzern hat im Mai angekündigt, eine neue Möglichkeit der Kontrolle über die Gruppenmitgliedschaft einzuführen.

Laut indischem Strafgesetzbuch ist das Verbreiten von Volksverhetzung in Büchern verboten, in einer neuen IT-Verordnung ist diese Regel übernommen worden. 2017 gab es deswegen bereits Hunderte von Verhaftungen. Aber selbst die Polizei deutet an, dass „Gerüchte an sich“ noch nicht illegal seien.

Einige Polizeipräsidien, etwa das des Bundesstaates Maharashtra, haben mittlerweile eine digitale Kriminalabteilung aufgebaut. Sie solle falsche Inhalte löschen, sagt der Polizei-Abteilungsleiter Brujesh Singh: „Gerüchte und Fake News über WhatsApp sind eine Bedrohung. Wir versuchen, sie zu bekämpfen.“