Nadja und Florian K. mit ihren Töchtern Nora (links) und Fina Foto: Frank Eppler
Die Töchter von Nadja und Florian K. aus Kernen sind hörend auf die Welt gekommen. Die Muttersprache der Mädchen ist die Gebärdensprache. Wie funktioniert der Alltag der Familie?
Florian K. hält die Hand seiner Tochter Nora. Schritt für Schritt geht er voran auf dem wackeligen Spielgerät aus Holz, das die Siebenjährige eben mühelos gemeistert hat. Die Tochter stützt den Vater, ein schönes Bild. „Danke, dass Du mir geholfen hast“, gebärdet der 39-Jährige aus Kernen (Rems-Murr-Kreis), als er am Ende der Balancierspur angekommen ist. Er lächelt sie an. „Für Dich als Hörende ist das einfacher als für mich“, hatte er ihr vorher erklärt. Weil er gehörlos ist, ist sein Gleichgewichtssinn nicht so gut ausgeprägt.
Auch Noras Mutter Nadja ist nahezu taub. Sie steht ein paar Meter weiter an der Netzschaukel des Spielplatzes und gibt ihrer jüngeren Tochter Anschübe. Nora läuft zu ihnen. Schwupps, sitzt sie neben Fina. Als sie zur Mutter blickt, bewegt sie schnell die Hände („Dein Schnürsenkel ist offen“). Nadja K. bückt sich, bindet die Schleife neu. „Setz Dich hin“, gebärdet die große Schwester zur kleinen. Doch die hat nicht geschaut. Also spricht Nora es laut aus. Schon sitzt Fina, statt zu liegen.
Zwei Gebärdensprachdolmetscher sind beim Gespräch dabei
Nora und Fina sind Coda (Children of deaf adults). So nennt man Kinder gehörloser Eltern, die hören können. Coda bewegen sich in beiden Welten: in der Welt der Gehörlosen und in der Welt der Hörenden. Die Gebärdensprache ist Noras und Finas Muttersprache. Die Lautsprache ist die zweite Sprache, die sie erlernt haben. Vor allem sind sie ganz normale Kinder. Nora spielt gerne Uno, Fina baut lieber. Und wenn Erwachsene zu viel reden, finden sie das „langweilig“. Das teilen sie den Eltern in ihrer Geheimsprache mit.
Nadja und Florian K., die nicht mit vollem Nachnamen genannt werden wollen, haben sich anlässlich der Woche der Gehörlosen bereit erklärt, Einblick in ihren Familienalltag zu geben. Dabei machen sie auch auf die Barrieren aufmerksam, die sie betreffen. Auch dieses Gespräch zeugt davon: Zwei professionelle Gebärdensprachdolmetscher sind dabei und übersetzen.
Im Wohnzimmer der Familie hängen Bilder von Urlauben über dem Sofa – Erinnerungen an schöne Wochen in Kroatien, Spanien, im Allgäu. Eine Schaukel baumelt von der Decke, in der Ecke steht ein Puppenhaus. Fina tippt die Besucherin an. Die Vierjährige will sich vorstellen und führt Daumen und Zeigefinger mandelförmig ihr Auge entlang. Das sei Finas Gebärdenname, erklärt ihre Mutter. Ihr eigener ist das Zeichen für „Warum“ kombiniert mit einem „N“, weil sie als Kind diese Frage oft gestellt habe. Vater Florian hatte mal Locken, weshalb er „Lockenkopf“ heißt. Und Nora stellt sich mit der Gebärde für Wimpern vor.
Florian und Nadja K. waren seit zehn Jahren ein Paar, als 2018 ihr erstes Kind auf die Welt kam. Kennengelernt hatten sie sich bei der Paulinenpflege Winnenden, wo sie eine Ausbildung zur Beiköchin und er zum Feinwerkmechaniker machte. Schon während der Schwangerschaft waren sie sich sicher: Ihr erstes Kind würde hörend auf die Welt kommen – so wie 90 bis 95 Prozent der Kinder gehörloser Eltern. Abends legten sie eine Spieluhr auf den Bauch. Das Ungeborene reagierte mit Tritten auf die Musik. Sie seien „erleichtert gewesen“, sagt Vater Florian. Ein gehörloses Kind wäre „auch schön“ gewesen. Aber es wäre ein „größerer Kampf“ geworden. „Auch wenn vieles besser ist als früher.“ Früher – als sie selbst Kinder waren.
Gebärdensprache erst seit 2002 offiziell anerkannt
Beide wuchsen umgeben von Hörenden auf – bei Eltern, die nicht gebärden konnten. Nadja fühlte sich verloren als Kind. „Alle haben auf mich eingesprochen.“ Es machte sie „aggressiv“. Erst mit neun Jahren sei sie besser zurechtgekommen. „Du musst die Lautsprache üben!“ Diese Mahnung hörte sie oft. Nicht nur von ihrer Mutter. „Die Lehrer haben versucht, uns zu dressieren“, erinnert sie sich an ihre Gehörlosenschule in Hessen. „Wir durften nicht gebärden, sie haben viel geschimpft und selbst nur Lautsprache benutzt“, berichtet die 41-Jährige – ihre Gebärden sind von starker Mimik begleitet. Die Deutsche Gebärdensprache ist erst seit 2002 offiziell anerkannt. Dass sie früher verboten war, hat an den Schulen lange nachgewirkt – eine leidvolle Erfahrung nicht nur für Nadja und Florian K.
Sie sind froh, dass heute gehörlose Kinder eine bessere Bildung bekommen. Ihren eigenen Kindern schreiben sie nicht vor, wie sie zu kommunizieren haben. Die Schwestern benutzen meistens Lautsprache, wenn sie unter sich sind. Ihre Eltern sagen, sie stört das nicht. Bei Streitereien bekämen sie doch immer mit, was los ist: „Sie hat dies gemacht, sie hat das gemacht“, beschwerten sie sich dann bei ihr, erzählt die Mutter und lächelt.
Es gibt auch Bilderbücher zum Gebärdenlernen. Foto: Frank Eppler
„Ihr müsst unbedingt mit ihnen sprechen!“ Diesen Rat haben Nadja und Florian K. oft bekommen, seit sie Eltern sind. Doch ihr Weg, von Geburt an zu gebärden, sei richtig gewesen. Sie verweisen auf die gute Entwicklung der Kinder. Obwohl die Großeltern nicht helfen konnten, haben Nora und Fina auch die Lautsprache früh gelernt. Als Einjährige kamen sie in eine Spielgruppe und fingen schnell an zu sprechen. Die Sprachförderung sei ihr wichtig gewesen, die Betreuung hätte sie als Hausfrau nicht gebraucht, betont Mutter Nadja. Nora gehe unterstützend noch zur Logopädin, Fina starte bald.
Was typisch für jüngere Coda sein soll und was auch die Schwestern instinktiv noch machen: Sie tippen andere an, wenn sie ihnen etwas erzählen wollen. „Hörende reagieren da manchmal erschrocken, aber die beiden sind es gewohnt, so um Aufmerksamkeit zu bitten“, erzählt die Mutter. Sie ist entspannt. Ihre Kinder werden auch das noch lernen.
„Er kann schon sprechen, er kann halt nicht hören“, sagt die Tochter
Die Kinder albern auf dem Sofa herum und kichern immer lauter. Die Dolmetscherin wendet sich ihnen zu. Sie müssten leise sein, denn sonst könne sie nicht übersetzen. Da sind die Mädchen ruhig. Nora schnappt sich einen Katalog und blättert ihn durch. Fina holt sich eine Kiste mit Bauteilen.
Anders als Florian spricht Nadja K. immer mal in Lautsprache mit den Kindern. Für Außenstehende klingt es ungewohnt, als würde es Kraft kosten, die Stimme zu benutzen. Morgens beim Wecken ruft sie die beiden zum Beispiel. Beim dritten Mal, das wissen Nora und Fina, zieht sie ihnen die Decke weg. Florian K. erzählt, dass ein anderes Kind seine Tochter mal gefragt habe, ob ihr Papa eigentlich sprechen kann. „Ja, der kann schon sprechen, er kann halt nicht hören“, erklärte sie. „Es ist für sie ganz normal“, sagt er. Mutter Nadja war vor den Sommerferien bei einem Schulausflug als Begleitung dabei. Sie lief in der Mitte der Gruppe. Als sie mit ihrer Tochter gebärdete, hätten anfangs einige Kinder geguckt. Aber dann waren andere Dinge spannender.
Verbände fordern Gehörlosengeld
Die Eltern finden, dass es „sehr gut läuft“. Doch es gibt viele Situationen, die für sie schwieriger sind als für hörende Mütter und Väter. Für ihre gesellschaftliche Teilhabe sind die beiden auf Gebärdensprachdolmetscher angewiesen. Steht das Entwicklungsgespräch in der Kita, ein Arztbesuch oder der Elternabend in der Schule an, muss Nadja K. mindestens zwei Wochen im Voraus ihren Bedarf anmelden. In diesen Fällen würden die Kosten übernommen, doch nicht bei privaten Terminen. Entweder sie stemmen den Bankbesuch und den Kindergeburtstag allein oder sie zahlen die Dolmetscher selbst.
Der Paritätische Wohlfahrtsverband und der Landesverband der Gehörlosen in Baden-Württemberg fordern, Gebärdensprachdolmetscher „in allen Lebensbereichen“ zu finanzieren und die Deutsche Gebärdensprache als Amts- und Minderheitensprache anzuerkennen. Sie schlagen ein Gehörlosengeld für die rund 4000 Gehörlosen im Land vor. Analog zum Landesblindengeld könnte dieses monatlich ausgezahlt werden.
Solch ein Gehörlosengeld würde auch den Alltag von Nadja und Florian K. erleichtern. Ein Problem bliebe aber: der Mangel an Gebärdensprachdolmetschern. „Das ist ein Riesenproblem“, so Mutter Nadja. Gerade für Familien ist vieles nicht planbar.
Seit 2008 sind Nadja und Florian K. schon ein Paar. Foto: Frank Eppler
Vater Florian bereiten Situationen Sorgen, „in denen es schnell gehen muss“. Nadja K. wendet sich Nora zu, die etwas gebärdet haben muss. „Ja, ich weiß, aber du musst nicht dolmetschen. Du bist ein Kind. Das ist keine Sache für ein Kind!“ Die Siebenjährige verzieht das Gesicht. Sie ist stolz, dass sie gebärden kann. Sie würde gerne helfen. Dass ihre Eltern sie schützen, versteht sie nicht.
Es kommt vor, dass Nora von sich aus übersetze, sagt ihre Mutter. „Aber wir möchten das nicht. Das ist eine Belastung für sie.“ Besonders stört es sie, wenn ihre Kinder ungefragt als Dolmetscher herangezogen werden und man sie selbst übergeht. Wie neulich: „Sag Deiner Mutter, dass Du Fieber hast“ – die Worte konnte sie bei der Übergabe in der Kita vom Mund ablesen. „Das würde man doch sonst nicht machen.“
Wenn sie mit anderen Eltern kommuniziert, greift Nadja K. oft zum Smartphone. Ihr Mann Florian zeigt eine App, die Gesprochenes in Text umwandelt. Bei der Arbeit im Betrieb benutzt der Feinwerkmechaniker diese viel. Gebärdensprachdolmetscher könne aber keine App der Welt ersetzen, sind sich die Eltern einig.
Einmal waren sie in der Notaufnahme – eine „Ohnmachtssituation“
Plötzlich blitzt es im Raum, die Klingel schrillt. Der Fotograf ist da. „Ich liebe Spielplatz“, ruft Fina, als sie erfährt, wo es hingeht. Auch nach dem Schaukeln haben die Kinder noch Lust auf Bewegung. Sie holen ihre Fahrräder aus der Garage und steuern auf die ruhige Anwohnerstraße zu. Weil sie der Mutter den Rücken kehren, ruft Nadja K.: „Nora, nicht auf Straße! Ist zu gefährlich da!“ Sie sollen zwischen den Häusern fahren.
Fina sei vor zwei Jahren gestürzt. Seither sei sie „übervorsichtig“, erklärt die Mutter. Nora lief damals zu ihr, um sie auf die weinende Schwester aufmerksam zu machen, die sich den Arm gebrochen hatte. Sie fuhren in die Notaufnahme – ohne Dolmetscher. „Ich will nicht noch mal in so eine Ohnmachtssituation kommen.“
Nora und Fina bleiben auf dem Fußweg. „Auf die Plätze, fertig, los!“, schreit Nora. Weg ist sie. Fina düst hinterher. Heute werden sie gut einschlafen können. Es wird nicht still sein im Zimmer. Aus einer kleinen Box wird leise Musik erklingen, wie jeden Abend.
– „Der Paritätische“ hat die Kosten für die Gebärdensprachdolmetscher übernommen.
Woche der Gehörlosen
Zahlen Rund 250 000 Menschen verwenden deutschlandweit die Deutsche Gebärdensprache (DGS). Dazu gehören laut dem Paritätischen Wohlfahrtsverband neben Gehörlosen auch Menschen mit an Taubheit grenzender Schwerhörigkeit. Für rund 80 000 Menschen ist es die Muttersprache. Gebärdensprachen sind eigenständige, vollwertige Sprachen. Die DGS besteht aus Handzeichen, Mimik und Körperhaltung. Sie ist eine von rund 300 Gebärdensprachen weltweit.
Woche Die Woche der Gehörlosen vom 22. bis 28. September macht auf die Belange gehörloser Menschen aufmerksam – der Internationale Tag der Gebärdensprache am 23. September weist dabei besonders auf die Bedeutung der Gebärdensprache hin. Am 28. September wird der Internationale Tag der Gehörlosen gefeiert.