Peter Huber gewährt Einblicke in die verstörende Korrespondenz zwischen seinem Vater und dessen jüdischen Freund in der NS-Zeit.

Stuttgart - Im März 2008 hat der Künstler Gunter Demnig in der Seestraße vor dem Haus Nummer 114 zwei Stolpersteine verlegt: Für Käthe und Eva Stettiner, Mutter und Tochter, die hier einmal gelebt haben und am 26. März 1942 im Außenlager Kaiserwald bei Riga ermordet wurden: Erschossen von der SS. An dieser Gedenkstunde hat auch Peter Huber teilgenommen. Denn der 78-Jährige hütet die Erinnerungen seines Vaters und seiner Großmutter an die Familie Stettiner. Davon erzählt er, nachdem er den Bericht in unserer Zeitung über die Stuttgarter Kriegsfilmchronik gelesen hat, in der Eva Stettiner im so genannten Judenladen und im Sammellager auf dem Killesberg zu sehen ist.

 

Ein Jude, der dem Nationalsozialismus nahe stand

Es ist ein Stück Zeitgeschichte, tragisch und zwiespältig, die Huber aufblättert. „Meine Großmutter Elisabeth Mährlen führte eine Ferienpension in Ibach im Schwarzwald, und hier haben sich die Stettiners im Sommer 1934 als Feriengäste einquartiert“, berichtet Huber. Eine Fabrikantenfamilie, Käthe Stettiner, seit 1933 verwitwet, und ihre Kinder Eva und Ludwig, die in der Seestraße im eigenen Haus lebten, in dem großzügige Gastfreundschaft und Kultur gepflegt wurden, wie Huber aus der hinterlassenen Korrespondenz von Großmutter und Vater weiß. Eva arbeitete als Krankenschwester, Ludwig war Musiker und spielte hervorragend Geige. Eine Familie von jüdischer Herkunft, jedoch christlich getauft. In diesen Ferien haben sich, so Huber weiter, Elisabeths Sohn Peter, 1920 geboren, und Ludwig Stettiner, 1915 geboren, angefreundet, weil beide Briefmarken sammelten. Aus diesem gemeinsamen Interesse habe sich ein lebhafter Briefwechsel nicht nur über philatelistische Themen ergeben. Die jungen Männer tauschten sich auch über ihre persönliche Sicht der politischen Entwicklung aus, priesen ihren Lieblingsautoren Walter Flex („Der Wanderer zwischen beiden Welten“ ), der zu den meistpropagierten Schriftstellern der Nazis gehörte. „Beide waren vom Nationalsozialismus überzeugt“, sagt Peter Huber unumwunden. 1935 empörte sich Ludwig Stettiner über die Deutschfeindlichkeit der Schweizer, noch 1937 haben ihn die neuen Hitler-Briefmarken begeistert. Und er beglückwünscht seinen Freund Peter zur neuen Führerrolle bei der Hitlerjugend. Der schrieb über Stettiners 1938 an eine Freundin: „Leider sind es Juden. Sie sehen sogar so aus, sind aber herzensgute Leute, die alles tun, um für sich selber den Vorwurf aller typischen jüdischen Eigenschaften ungültig zu machen.“ Über das Reichspogrom, das er am 10. November 1938 erlebt hatte, empörte er sich. Aber nur über „den Haufen Banditen, die da gehaust haben“. Als Deutscher mit einer gewissen Haltung sei er sich dafür zu anständig.

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Peter Huber, 1942 geboren, hat seinen gleichnamigen Vater nicht bewusst erlebt: „Er wurde am Tag meiner Taufe trotz einer schweren Verwundung wieder nach Russland eingezogen und fiel dort 1943. Ich frage mich, wie es möglich war, dass mein Vater nach diesem Erlebnis und seiner Haltung dazu weiterhin vom Nationalsozialismus überzeugt war. Mir macht zu schaffen und auch deutlich, wie erfolgreich die Nazipropaganda war und wie gefährlich nationalistisches Gift ist. Dabei hatte meine Großmutter schon 1930 gewarnt: Wer Hitler wählt, wählt Krieg und die Judenvernichtung.“

In Palästina nicht glücklich geworden

Mit keinem Wort hat Ludwig Stettiner in seinen Briefen über Ausgrenzung und Verfolgung der Juden geklagt. Doch im Januar 1939 deutete er Emigrationsabsicht an, im März 1940 gelang ihm die „Auswanderung“ nach Palästina. „Er drängte seine Schwester mitzukommen“, weiß Peter Huber, „aber Eva Stettiner wollte die Mutter nicht allein lassen.“ Das Haus wurde zum Judenhaus erklärt, „völlig überbelegt, schrecklich“, schrieb Elisabeth Mährlen ihrem Sohn 1941 nach einem Besuch in der Seestraße. Der wusste 1942, dass Stettiners in einem „Transport Nichtarier“ nach Riga deportiert worden waren.

Ludwig Stettiner ist in Palästina nicht glücklich geworden. Er habe sich, schreibt er 1947 an Elisabeth, von der nationalsozialistischen Rassenlehre nie betroffen gefühlt und sich trotz seiner jüdischen Abstammung nie als etwas anders als ein Deutscher gefühlt. Außerdem werde er als Christ beruflich und gesellschaftlich geächtet. Bald danach ist Ludwig Stettiner nach Deutschland zurückgekommen und hat auch die Verbindung zu Elisabeth und ihrem zweiten Sohn Heinz wieder aufgenommen. Dann ist der Faden offenbar gerissen. Er hat in Asperg gelebt und ist, 1965 gestorben.

Er ahnt, warum die Familie schwieg

Peter Huber hat ihn nie kennengelernt und auch nicht Näheres über ihn in Erfahrung bringen können. Er sei auf diese Lebensspuren erst in der hinterlassenen Korrespondenz der 1969 verstorbenen Großmutter gestoßen. Er ahnt, warum die Familie darüber schwieg. Er aber wolle nichts beschönigen, denn „im Leben ist nie etwas nur schwarz oder nur weiß“.