In der Grundschule Hellershof lernen 23 Kinder der Klassen 1 bis 4 gemeinsam. Diese sogenannte Familienklasse – eine von zwei im Landkreis – ist aus der Not geboren. Sie eröffnet den Schülern und ihren Lehrerinnen aber neue Wege des Lernens.

Alfdorf - Fünf Minuten nach halb acht, draußen dämmert es. Der Unterricht in der Grundschule Hellershof beginnt offiziell erst in zehn Minuten, doch einige Kinder haben schon angefangen mit der Freiarbeit. Tobias und Janika zum Beispiel. Die Zweitklässler sitzen, Hausschuhe an den Füßen, am großen Arbeitstisch im hinteren Bereich des heimeligen Klassenzimmers. Vor ihnen stehen Plastikboxen, gut gefüllt mit beschrifteten Karteikarten. Janika zieht eine davon aus dem Kästchen, Tobias greift nach seinem Füller – los geht’s. „Tiere“ liest Janika von der Karte ab. „T-i-e-r-e“ schreibt Tobias feinsäuberlich auf ein Blatt Papier.

 

Mit vereinten Kräften zum richtigen Ergebnis

Benjamin und Cäsar haben sich für Mathe entschieden. Auf der Karte, die Benjamin aus einem Stapel von Rechenaufgaben holt, steht „2667 x 3“. Benjamin rechnet die Aufgabe mithilfe von Perlen an einem Montessori-Rechenbrett, Cäsar multipliziert die Zahlen schriftlich auf einem Blatt Papier. Das Resultat der Rechenaktion sind zwei verschiedene Ergebnisse. Gemeinsam grübeln die Viertklässler, wer recht hat, rechnen die Aufgabe zusammen durch – einmal auf dem Papier, einmal am Brett. „Ach, daran lag’s“, ruft Benjamin schließlich und legt einige Perlen an die richtige Stelle: „8001“ lautet das Ergebnis, das die zwei mit vereinten Kräften gefunden haben.

Marlene kommt in Begleitung einer Inklusionskraft zur Schule. Ihr Talker, eine elektronische Kommunikationshilfe mit Tasten, steht vor ihr auf dem Tisch. Auch bei Marlene stehen Zahlen auf dem Programm: Sie soll eine Kette aus 30 Perlen auffädeln, in der neun Perlen grün, die zehnte blau ist. Marlene nickt – alles klar. Die Lehrerinnen Dagmar Hänger und Stephanie Hogh gehen derweil durchs Zimmer, geben Tipps, Hilfestellung oder ein Lob. Ab und an lässt eine die Glöckchen eines Windspiels bimmeln: „Leiser bitte“, heißt das.

So oft es geht, sind Stephanie Hogh und Dagmar Hänger, die auch Rektorin der Schule ist, gemeinsam im Unterricht. Denn die Hellershofer Grundschulklasse ist mit 23 Mädchen und Buben zwar nicht übermäßig groß, stellt aber spezielle Anforderungen an die Lehrerinnen: Seit dem Herbst gibt es nur noch eine Klasse, in der alle, vom ABC-Schützen bis zum Viertklässler, gemeinsam unterrichtet werden. Die Familienklasse ist aus der Not geboren – es mangelt derzeit schlicht an Kindern, um mehr Klassen zu bilden. Auch an der Grundschule in Aspach-Rietenau werden alle Klassenstufen zusammen unterrichtet – dort sind es 18 Kinder.

Stapelweise Unterrichtsmaterial

Das vergangene Jahr sei anstrengend gewesen, sagen die Pädagoginnen in Hellershof, die ihren Unterricht neu konzipieren und Unmengen von Unterrichtsmaterial für die sechs- bis zehnjährigen Kinder beschaffen mussten. Das stapelt sich nun im Klassenzimmer in Regalen, Schubladen und Schütten, die je nach Jahrgang eine andere Farbe haben. „Wir haben alles neu organisiert und sind noch daran, Dinge zu ändern“, erzählt Stephanie Hogh. Anstrengend seien die Stunden, die man allein halten müsse: „Da kommt man schon mal ins Schwimmen, wenn viele Kinder etwas wollen.“

Doch selbst wenn die Zahl der Kinder wieder steigen würde, wäre das für sie und Dagmar Hänger kein Grund, mit fliegenden Fahnen zum vorigen System zurückzukehren. „Es bringt den Kinder viel, dass sie nicht immer im Gleichschritt lernen müssen“, sagt Hogh, „langsamere Kinder haben mehr Zeit, schnellere können weiter gehen. Der Unterricht wird immer individueller.“ Und effektiver, hat Dagmar Hänger beobachtet: „Bei Frontalunterricht haben die Kinder viel mehr Gelegenheit, abzuschalten.“ Benjamin findet, es sei bisweilen „ein bissle laut, aber eigentlich toll“. Die Erstklässler, sagt er, „sind manchmal witzig, manchmal nerven sie“.

„Keiner darf aus dem Fokus geraten“

Ein Lerntagebuch listet auf, was jedes Kind im Lauf der Woche gelernt hat. „Es ist wichtig, dass gut dokumentiert wird, wo jeder Schüler steht – keiner darf aus dem Fokus geraten“, sagt Dagmar Hänger, die demnächst eine Zusatzausbildung in Montessori-Pädagogik abschließt. Umgekehrt gibt das Tagebuch Kindern und Eltern mithilfe von Smileys Rückmeldung, wie sie gearbeitet haben. In welchem Tempo die Schüler ihren Wochenplan erfüllen, entscheiden sie selbst. Nur am Freitag, da muss alles fertig sein.

Die größte Herausforderung bislang? „Die Klasse musste sich neu finden, es war ein längerer Prozess, bis jeder seinen Platz gefunden hatte. Das hätte ich nicht gedacht“, sagt Dagmar Hänger. Auch die Gestaltung der Sportstunden sei nicht ganz einfach – ein Sechsjähriger habe eben andere körperliche Voraussetzungen als ein Zehnjähriger. „Ich würde das Konzept der Familienklasse nicht über jede Schule drüberstülpen wollen“, sagt die Rektorin, „da hängt schon vieles von den Lehrern ab.“

Benjamin schaut auf die Uhr – 9.15 Uhr, Ende der Freiarbeit. Er klingelt am Windspiel, die Klasse wird still. Benjamin hält ein Blatt in die Höhe: „Ich wünsche mir“ steht darauf. 23 Arme gehen hoch. „Leiser“ ruft Lenn, „einen Computer,“ sagt Antonio. „Jetzt ist Marlene dran“, sagt Benjamin. Mucksmäuschenstill warten alle geduldig, bis Marlene ihre Antwort in ihre Sprechhilfe getippt hat. Das, sagt Dagmar Hänger, sei typisch: „Die Kinder sind nicht nur sehr selbständige Arbeiter, sondern auch ausgesprochen sozial.“

Familienklassen im Rems-Murr-Kreis

Familienklasse
Ein gemeinsamer Unterricht der Klassen 1 bis 4 ist an manchen Schulen, etwa in Alfdorf-Hellershof und in Aspach-Rietenau, die Folge zu geringer Schülerzahlen. In der Montessori-Pädagogik werden die Jahrgänge hingegen bewusst gemischt.

Schule
Derzeit besuchen 23 Kinder die Grundschule Hellershof, zwei in Begleitung einer Inklusionskraft. In die Grundschule Rietenau gehen 18 Kinder.