Der Sommer nach dem Abi: Für Jugendliche ist das eine Phase der Befreiung – und ein Aufbruch ins Ungewisse. Die Eltern dagegen bleiben zurück und sortieren Erinnerungen. Das ist gar nicht so einfach, meint Martin Gerstner.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Martin Gerstner (ges)

Stuttgart - Ich blinzle gerade in eine tiefstehende Sonne, die mir auf diese Weise mitteilt, dass sich der Sommer langsam seinem Ende nähert. Das wäre schon ein hinreichender Grund für aufkeimende Melancholie, die bei mir aber durch die Gewissheit verstärkt wird, dass sich vieles ändern wird, wenn die Tage kürzer werden. Meine Tochter hat ihre Schulkarriere beendet, es gab ausgangs des vergangenen Schuljahres eine offizielle Zeugnisübergabe mit dem erwartbaren Dreiklang aus Dankesreden, wolkigen Blicken in die Zukunft und Sekt. Häppchen entfielen aus hygienischen Gründen.

 

Man blickte mit durchaus berechtigtem Stolz auf die gemeisterten Herausforderungen zurück. Der Abi-Jahrgang hatte sich weitgehend resilient gegenüber pandemischen Einflüssen und hygienischen Zumutungen gezeigt. Die Lehrerinnen und Lehrer kämpften sich unterschiedlich erfolgreich durch das Gewirr aus Neigungskursen, Abstandsregeln und technischen Unzulänglichkeiten. Manche mussten sich in der Rede einer Abiturientin einige ironischen Spitzen gefallen lassen, die von meiner Tochter missbilligend als „Bitch Moves“ bezeichnet wurden. Mit tosendem Applaus überschüttet wurde dagegen jener Physik- und Mathelehrer, der mit dem Schraubenzieher im Mund und viel praxisnaher Expertise W-Lan-Spots an der Schule installiert hatte und zum Retter der digitalen Informationsübermittlung wurde.

Erinnerungen zwischen Chaos und Gelächter

Jetzt trennen sich viele Wege. Nach dem Urlaub beginnt meine Tochter ein Freiwilliges Soziales Jahr in einer anderen Stadt. Ihr emotionaler Zustand wechselt zwischen wehmütigem Rückblick, gespannter Erwartung und stiller Genugtuung darüber, dem manchmal stickigen Dunst der Lehrpläne zu entkommen. Ich werde ihr einige ungebetene Ratschläge mitgeben und einen meiner alten Kapuzenpullis in ihren Koffer packen, die sie mit rätselhafter Leidenschaft und modischer Todesverachtung trägt.

Wir sind jetzt raus

Wir, die Eltern, bleiben zurück und sortieren Erinnerungen: morgendliche Fahrten mit einem kleinen Mädchen im Radanhänger, Fußball-Nachmittage, eindrucksvolle emotionale Wutausbrüche, Strandszenen, Wanderstiefel und viel gemeinsames Gelächter. Ich sehe die geheimnisvolle, aber totale Unordnung ihres Zimmers, das zu betreten immer mit der Gefahr verbunden war, beim Auftreten Geräusche zu hören, die an das Zerbrechen eines digitalen Endgeräts erinnern. (Ob sie es schafft, ein einziges und letztes Mal aufzuräumen?) Und sich sehe sie beim Zubereiten veganer Gerichte (immerhin: die Kocherei wird jetzt einfacher), mit denen sie die Küche in das dampfende Hinterzimmer einer indischen Garküche verwandelt.

Das alles endet nun und bevor sich jetzt im Sonnenuntergang meine Stimmung noch mehr verdüstert, sei gesagt: das muss alles so sein. Die Kinder gehen hinaus, die Eltern bleiben zurück und spüren ihr Alter. Ich hoffe, nur, dass sie daran denkt, im Winter warme Socken anzuziehen – wir sind jetzt raus.

Martin Gerstner hat zwei Kinder – die Schulkarriere seiner Tochter hat er bis zum Ende mit Interesse und Ehrfurcht begleitet. Was sie mit ihrem neuen Leben anfängt, kann er nur noch aus der Ferne verfolgen.