Warum nur diese Angst vor Rot, Gelb, Blau? Ist das pietistische Erbe schuld oder wird es den Leuten vor lauter Werbung zu bunt?

Stuttgart - Vor zwanzig Jahren, als jeder Regisseur, sich am Ende der Vorstellung vor dem Publikum verbeugend, seinen Zuschauern klarmachte, dass Geist nur schwarz auftritt, hat auch dieses vom Theater gelernt und die Farbe Schwarz genutzt, um Verstand und Figur zu verschlanken. Damals wurden die Straßen schwarz. Schwarz aber war immerhin noch Farbe, die asketische Farbe der Wahrheit, die in bewusster Feindschaft über die bunte Unwahrheit der Reklamewelt triumphierte.

 

Inzwischen ist dieser letzte Kampf gegen das fröhliche Establishment erlahmt, das Schwarz erloschen und Farbe überhaupt aus den Straßen verschwunden. An Farblosigkeit ist das gegenwärtige Straßenbild kaum zu überbieten: Braun- und Schwarztöne, vergällt durch schmutziges Grau und verbrauchtes Beige, beherrschen das Bild; die Farbskala der Kleider bewegt sich zwischen Schlamm, Teer, Pech, Asphalt, Asche, Ruß. Wenn Farbe getragen wird, ist stets ein Schmutzton in die Grundfarbe gemischt; die Knautschqualität der Stoffe bringt es zudem dahin, dass sich Farbe auf dem ungebügelten Material nicht entfaltet.

Mimikry der winterlichen Natur ist es nicht, was die Straßenmode so verwelkt aussehen lässt; auch im Sommer gewinnt sie kaum Farbe: die Jeans ist nicht himmelblau, sondern "prewashed", T-Shirts sind nicht sommerlich-bunt, sondern wie mit Straßenstaub überzogen. Zwischen die jugendliche Tonlosigkeit, der sich auch die Senioren angepasst haben, schieben sich zwar einige bunte Flecken. Für sie sind meist gereifte Damen verantwortlich, die die Erinnerung an die Mode zwischen Dior und Saint Laurent nicht aufgeben wollen.

Von Sand bis Zabayone

Jugendlichen hingegen wäre es peinlich, wenn sie aussähen wie sie und irgendetwas an ihnen leuchtete. Manchmal wird die graue Straße vom Bunt der Fußballfans überspült, manchmal verhilft ein Straßenfest der Innenstadt zu Farbe. Sporadisch durchkreuzen auch Hobbysportler die City, Jogger oder Radfahrer, die gekleidet sind wie schlanke Lurche. Dieses Gelegenheitsbunt aber erlischt schnell und macht dem üblichen Alltagsgrau Platz.

Auf Farbe freilich verzichtet die menschliche Fantasie dennoch nicht. Wie es einen Hungertrieb gibt, einen Sexualtrieb, so darf man einen Farbtrieb annehmen. Die Kunst beginnt mit der Bemalung von Tontierchen und der Krieg mit Körperbemalung. Der letzte Krieg, der mit Farbe und mit ihr vor allem ausgefochten wurde, war der der Protestgeneration, der Blumenkinder, Punks und Gothics: Ihr Aufstand gegen Eltern und Establishment war ein Aufschrei in Farbe.

Warum also verzichtet der Mensch, der mit seinen Farberfindungen sogar die Schönheiten der Natur überbieten kann, auf einmal auf den Straßen so ganz auf sie? Dass er die aristokratische Farbenpracht ablegte, hatte politische Gründe; weshalb aber die Wappenfarbe der Wohlstandgesellschaft Farblosigkeit ist, bedarf einer eigenen Erklärung. Immerhin beherrscht ja noch immer das Bewusstsein des Zeitgenossen Farbigkeit als Idee: Auf dem PC zum Beispiel stehen ihm 216 durch Hexadezimalnotationen bezeichnete Farbnuancen zur Verfügung. Will er seine Wohnung tünchen, kann er im Heimwerkermarkt aus der RAL-Farbtabelle vierzig Farben mit vielen Schattierungen für ein buntes Zuhause auswählen. Die Zeitschrift "Schöner Wohnen" hält im Internet einen Interaktiven Farbdesigner bereit, der hilft, in Wohn-, Schlaf-, Kinderzimmer so viel Farbe wie möglich unterzubringen. Für den heute bevorzugten Braunton etwa stellt dieser Farbdesigner ein klangvolles Vokabular zur Verfügung: Noisette, Savanne, Sand, Sesam, Honey, Farn, Limone, Melone, Ziegel, Zabayone. Auch Modekataloge bieten in jeder Saison neue Farbkombinationen an und plündern dafür ganze Fress- und Früchtekörbe: Melba, Aubergine, Vanille, Oliv, Flamingo, Kiwi, Schilf, Schoko. Dieselben T-Shirts aber, die auf dem Hochglanz dieser Zeitschriften Leuchtkraft entfalten, ziehen, am Körper getragen, sofort den Straßenstaub auf sich, den es gar nicht mehr gibt.

Aufdringliche optische Angriffe

Ein ästhetischer Grund ließe sich dafür finden, warum die Menschen der westlichen Welt in ihren Straßen als farblose Schatten auftreten wollen, und ein ökonomischer, warum sie so auftreten müssen. Der sinnliche Grund liegt, paradoxerweise, in der schreienden Buntheit, die die Zeitgenossen bedrängt. Fast jeder nimmt täglich eine Überdosis an Farbe in sich auf. Die technische und kommerzielle Welt setzt das Auge unentwegt optischen Angriffen aus. Reklame ist nur eine unter vielen Aufdringlichkeiten. Der entschiedenste Angriff geht vom Fernsehen aus. Je bunter es wurde, desto monochromer erschien das Straßenbild, je greller der Plasmabildschirm die Wohnungen beleuchtete, umso blasser wurden die Kleider. Lauter Geblendete tappen in den Straßen herum. Rettung für den überanstrengten Sehsinn liegt allein in der Farblosigkeit. Wer sein Selbst retten will, behauptet sich als Schatten gegen die Anmaßungen dieser Traumwelt.

Doch auch beim Gang durch die City ist der Besucher einer Attacke aus Farbe, Glanz und Spiegelung ausgesetzt. Getarnt durch farbneutrale Kleidung steigt er zu Hause ins Auto oder an der nahe gelegenen Haltestelle in den Untergrund, um in eine überbelichtete Kulisse zu fahren. Sobald er der Unterwelt von U-Bahn und Parkhaus entkommen ist, gerät er in die blendende Verführung von Handel und Konsum, denn auch die Architektur im Zentrum der Stadt legt es mittlerweile darauf an zu blenden. Fast nur aus Glas, reflektieren neue Büro- und Geschäftshäuser Himmel und Wolken und verschmelzen sie zu einem bewegten und bewegenden Gemälde. Wer, emporschauend, sich in diesen Bildern verliert, zieht mit den Wolken dahin, ist geblendet und gerät ins Taumeln.

Farbe gibt es auch heute noch - aber nur als Hochglanzbild - und das allerorten: auf und hinter der fluoreszierenden Glaskulisse der Schaufenster, auf der spiegelnden "curtain-wall" der Hochhäuser, auf dem Bildschirm, auf Autolack, auf den Hochglanzseiten der Fach- und Modezeitschriften. Der Mensch setzt gegen ihre Aufdringlichkeit seine Natürlichkeit und versteht diese als Tarnfarbe. Er trennt entschieden zwischen dem, was er sieht, und dem, was er lebt, zwischen Farbe und Nicht-Farbe. Was die zweidimensionale Glanzhaut als verführerisches Bild vorstellt, verliert seinen Zauber, sobald das dreidimensionale Leben der Körper, Kleider und privaten Zufluchten ins Spiel kommt.

Wer wirbt, wirbt mit Farbe

Freilich hat die heutige Farbaskese ihre Geschichte und damit einen Grund, der tiefer liegt, als es das Oberflächenbild der City verraten will. Pietistische Strebsamkeit fiel immer schon durch unscheinbare Kleidung auf und überließ die Farbe dem Luxus. Wer auf Farbe verzichtete, schuf sich ein moralisches, wenn nicht gar religiöses Überlegenheitsgefühl über den Tand der Welt. Der geschäftstüchtige Bürger unterschied sich vom Aristokraten, indem er Farbe ablegte. Er überließ sie den Frauen und machte mit seinem dunklen Anzug auf Straße und Ball den seriösen Hintergrund für ihren farbigen Auftritt.

Kein Wunder, dass die emanzipierte Frau des 20. Jahrhunderts auf Farbe verzichtet. "Bunte" Frauen wurden seither gern als Luxusobjekte verachtet. So kam es Ende des 20. Jahrhunderts dahin, dass alle Frauen, ob Geschäfts- oder Hausfrau, Giftgrün und Knallrot ablegten und Staubgrau anzogen. Dem Konsumenten aber in der City, ob männlich oder weiblich, verschafft Farblosigkeit den Vorteil, dass er sich den bunten Verführungen des Konsums hingeben darf, ohne dass das seinem Image als überlegtem Käufer schadet. Wer wirbt, wirbt mit Farbe, wer konsumiert, stellt seinen Sachverstand durch Farbaskese vor.