Die Fashion Week in Moskau gilt als Exot neben den „Big Four“ New York, London, Mailand und Paris. Dabei geht die russische Modeszene mit dem Zeitgeist und vereint Tradition und Avantgarde, weiß die Modesoziologin Natasha Binar.

Stuttgart/ Moskau - Natasha Binar, 47, hat russische Wurzeln. Bis sie 12 Jahre alt war wuchs sie, Tochter einer Russin und eines Litauers, in Litauen auf. Bis heute prägt diese Sozialisation im Osten ihre Persönlichkeit und ihre Interessen. Ihr bewusstes Modeverständnis hat sie allerdings erst später während ihrer Aufenthalte in London, Berlin und München entwickelt. Sie war 1999 Mitorganisatorin der Fashion Week in London, arbeitete als Beraterin von Jungdesignern, schrieb Modebücher, unter anderem „Berlin Catwalks“ und arbeitet momentan als Dozentin an der Akademie Mode & Design in München. In dieser Woche ist sie zum ersten Mal zu Gast bei der Fashion Week in Moskau und hält dort einen Vortrag über Identität und lokale Kultur in der globalisierten Modewelt. Im Interview gibt sie Einblicke in die russische Modeszene und das Zusammenspiel von kultureller Identität und Design.

 
Frau Binar, Sie haben selbst russische Wurzeln – mit welchem Modeverständnis sind Sie groß geworden?
Ein Designverständnis oder die Prägung einer eigenen Designidentität gab es damals nicht. Das hat was mit kreativem Zeitgeist, mit einer gewissen Offenheit und Experimentierfreudigkeit zu tun und das gab es unter staatlicher Regelung in der Form nicht.
Hinter dem Eisernen Vorhang war man also modisch gesehen abgehängt?
Wir hatten ja gar keinen Zugang zu schönen Dingen, Güter waren immer knapp und alles rationiert. Wir haben viel selbst gestrickt und genäht, die Russinen waren sehr erfinderisch, was das angeht. Das Schönste war, wenn wir irgendwie an die Burdazeitschriften heran gekommen sind. Das war meine erste Mode-Lektüre. Meine Mutter hat die ab und zu von Geschäftsreisen aus Moskau mitgebracht, die konnte man dort schon in den Achtzigern kaufen.
Aber irgendeine Form der Mode muss es doch auch in der Sowjetunion gegeben haben.
Ja, es gab natürlich Staatsdesigner wie Slava Zeitsev, der hat sämtliche Präsidentengattinnen eingekleidet und wurde immer wieder als der russische Dior oder der rote Dior bezeichnet. Und eine große Textilindustrie gab es auch immer schon in Russland. Frauen in den 1980er Jahren haben sich gerne ein bisschen männlich gekleidet: Jackets, Hosen, auch von den Uniformen inspiriert. Aber das, was wir unter einer kreativen Modeszene verstehen, gab es definitiv nicht.
Woher kommt das Bild, das man von „typischen Russinnen“ im Kopf hat: sehr viel Make-up, sehr hohe Schuhe, teure Handtaschen, Pelzmützen und eng anliegende Kostüme?
Das hat sich in den 1990er Jahren entwickelt als die Schere zwischen Arm und Reich immer größer wurde und die, die es sich leisten konnten wie besessen von westlichen Labels wie Versace, Armani, Dolce & Gabbana und Co waren. Da konnte es gar nicht genug Blingbling sein. Das hat sich aber inzwischen wieder zu einem gewissen Understatement entwickelt. In Russland sind derzeit – neben den eigenen – skandinavische und britische Marken sehr angesagt.
Was muss man sich momentan unter typisch russischer Mode vorstellen?
Es gibt natürlich wie auf der ganzen Welt den typischen Hipster-Style: weiße Sneaker, Skinny Jeans, Sweatshirt, Parka oder Langblazer. Aber es gibt auch russische Eigenheiten wie zum Beispiel bei Designer Denis Simachev. Er hat die Slogan-Shirts auf Russisch übersetzt: kyrillische Wörter wie Öl, Geld oder Gazprom stehen auf seinen Entwürfen. Klare Statements – das mögen die Russen. Meine Lieblingsdesignerin ist Anastasia Dokuchaeva . Sie führt klassische russische Elemente wie bunte Muster mit westlichen Schnitten zusammen und das auf eine sehr schöne, feminine, internationale Art.
Der russische Designer Gosha Rubchinsky steht für den Post-Sowjet-Style. Was ist darunter zu verstehen?
Von seiner Ästhetik sind viele sehr begeistert. Er bringt uns mit seinen Streetstyle-Teilen ein Stück Russland der 1990er Jahre zurück. Das war eine sehr harte Zeit, gleichzeitig unheimlich kreativ und spannend. Es hat sich eine künstlerische Freiheit entwickelt, die Gosha Rubchinsky in die Jetzt-Zeit übersetzt.
In Ihrem Vortrag bei der Fashion Week in Moskau sprechen Sie darüber, dass lokale Identität in der globalisierten Modewelt immer wichtiger wird. Warum ist das so?
Weil die Menschen inzwischen gelangweilt sind vom immer gleichen Streetstyle, den man auf der ganzen Welt sehen und kaufen kann. Zwar tendiert die jüngere Generation dazu, sich uniform zu kleiden. Trotzdem geht der Trend hin zu lokalen und traditionellen Eigenheiten. Das sieht man an Beispielen wie dem japanischen Kinomo, der in letzter Zeit zum It-Piece von vielen Designern wurde. Oder am angesagten Schotten-Karo oder Inka-Muster.
Am 18. März ist Präsidentschaftswahl in Russland. Wie wirkt sich die politische Stimmung im Land auf die kreative Szene aus?
Ich glaube, die Menschen sind sehr zwiegespalten. Ich kenne viele Kreative, die mit dem Putin-Regime nicht einverstanden sind und nach Berlin gegangen sind. Sie haben nicht die Ressourcen und die Energie, sich kreativ auszuleben. Andere bleiben bewusst, um die Kreativität weiter voran zu bringen. Es ist wie so vieles in Russland: Schwarz und Weiß.

Fashion Week in Moskau

Die Fashion Week findet bis einschließlich Donnerstag (15. März) in Moskau statt. Mehr als 100 russische, kasachische, georgische, aber auch südafrikanische Designer zeigen ihre Herbst- und Winterkollektionen 2018/2019. Neben den Schauen gibt es das Symposium „Fashion Futurum“, innerhalb dessen Vorträge und Workshops für Nachwuchs-Designer angeboten werden. Die Fashion Week in Moskau wird von Mercedes-Benz gesponsert.

Die Modesoziologin Natasha Binar (47) hat in London Wirtschaft und Soziologie studiert. Als gebürtige Litauerin ein Gespür für die russische Identität und die Entwicklung, die lokale Designer hinter sich haben. Sie beobachtet die russische Modeszene seit Jahren und hält in diesem Jahr dort ihren ersten Vortrag „Identität und lokale Kultur in der globalisierten Modewelt“.