Fasnet in Stuttgart Halligalli füllt die Kassen

Einige Fastnetsfreunde wenden viel Geld und Zeit für Kostüme auf. Foto: Lichtgut/Oliver Willikonsky

Bad Cannstatt ist in diesen Narrentagen das Epizentrum des Stuttgarter Fasnettreibens. Nirgendwo aber wird ausschweifender gefeiert als am Schmotzigen Donnerstag in den Gassen rund um den Cannstatter Marktplatz.

Stuttgart - Neben der Theke der Cocktailbar in der Küblergasse von Bad Cannstatt hängt ein großer Flachbildschirm, auf dem in der Nacht zum Freitag um zwei Uhr noch Fußball läuft. Von außen ist durch die Glasfront zwar nicht genau zu erkennen, welche Mannschaften gerade gegeneinander spielen. Exakt lässt sich dafür beziffern, wie viele Gäste im Lokal sitzen. Es sind zwei. Allerdings schauen sie nicht Fußball, sondern in ihre Smartphones. Man weiß nicht genau, womit der Wirt der Bar sein Geld verdient – der Ausschank von Getränken kann es nicht sein. Sonst hätte auch er die Tische und Sofas vorübergehend in den Keller verfrachtet. Und Unterhaltung würde nicht Fußball bieten, sondern Lieder, deren Titel „Ich bin ein Döner“ oder „Schatzi, schenk mir ein Foto“ lauten. So jedenfalls machen es an diesem Abend alle anderen Gastronomen in der Cannstatter Altstadt und dürfen sich mit diesem Erfolgskonzept über den umsatzstärksten Abend des Jahres freuen.

 

Bad Cannstatt ist das Epizentrum des Stuttgarter Fasnettreibens. Es mag am Dienstag den großen Faschingsumzugs in der Innenstadt geben, die Prunksitzungen und Bälle von Karnevalsvereinen wie der Zigeunerinsel oder dem Möbelwagen, die XXL-Partys in den Brauhäusern, die verkleidete Menschen jeden Alters schon vor vielen Jahren als äußerst konsumfreudige Zielgruppe identifiziert haben. Nirgendwo aber wird ausschweifender gefeiert als am Schmotzigen Donnerstag in den Gassen rund um den Cannstatter Marktplatz.

Längst vorbei sind die Zeiten, in denen die Freunde des Brauchtums unter sich waren

Punkt 19 Uhr ist es auch in diesem Jahr, als Jochen Weigel die mit bunten Luftballons geschmückte Bühne vor dem Alten Rathaus betritt. Die Feder eines Edelfasans ziert den Filzhut jenes Mannes, der als Küblerrat des Kübelesmarktes Bad Cannstatt e. V. gewissermaßen der Gastgeber ist. „Narri, Narro, ihr lieben Leute“, ruft er und gibt, nach ordnungsgemäßer Begrüßung der Sponsorenschaft und Politprominenz, den Startschuss eines Wettkampfs, der ursprünglich Höhe- und Mittelpunkt des Schmotzigen Donnerstags war: das Kübelesrennen.

Traditionell fahren dabei lokale Honoratioren in Holzkübeln im Kreis – längst vorbei aber sind die Zeiten, in denen im Publikum die Freunde des Brauchtums unter sich waren. Gerne erinnert sich Jochen Weigel, Kübelesrat in zweiter Generation, daran zurück, wie es neben der Rennstrecke nur einen Glühweinstand und eine Wurstbude gab. Heute reihen sich Cocktail-, Schnaps- und Bierbars aneinander, in der Minderheit sind Besucher wie Gerlinde und Gisela, zwei Damen im besten Alter, die Mineralwasser trinken und wie jedes Jahr mit der Stadtbahn aus Stammheim nach Cannstatt gefahren sind. „Da muss man dabei gewesen sein“, sagen sie und klatschen in ihren Elefantenkostümen begeistert in die Hände.

Die Eventisierung mach auch vor der Institution Fasnet keinen Halt

Als „Brauchtumsbewahrungsverein“ sehen die Kübler ihren Verein – haben aber längst akzeptiert, dass die Eventisierung von Veranstaltungen jedweder Art auch vor der Institution der Fasnet keinen Halt gemacht hat. „Inzwischen geht es vor allem um Halligalli“, sagt Jochen Weigel und rümpft dabei nur ein ganz klein wenig die Nase. Denn Halligalli ist es, was auch seinem Verein am Schmotzigen Donnerstag die Kassen füllt. Brechend voll ist die alte Scheune in der Küblergasse bereits beim Startschuss des Kübelesrennens. Als Abstellkammer dient sie den Küblern den Rest des Jahres – jetzt ist sie unter dem klangvollen Namen Zum Durscht einer der Hotspots der großen Cannstatter Fasnetsparty.

Mittendrin: Max und Mischa, zwei junge Männer Mitte 20, die sich weniger für Brauchtum, umso mehr aber für neue Bekanntschaften mit dem anderen Geschlecht interessieren. „Mal schauen, was passiert – der Abend ist noch jung.“ Als pinkfarbener Pelikan hat sich Max verkleidet, ein neonfarbenes Stirnband und einen Trainingsanzug aus Ballonseide im Aerobic-Stil trägt Mischa. In der Rangliste origineller Kostümierungen stehen sie damit im oberen Mittelfeld.

Neben Telefonnummern werden auch Körperflüssigkeiten ausgetauscht

Vor ihnen: – ddie Fastnetsfreunde, die viel Geld und noch mehr Zeit dafür aufwenden, am Schmotzigen Donnerstag den perfekten Auftritt hinzulegenie lebenden Duschkabinen, die Engelchen im selbst gebastelten Glanzfolienkleid, die Außerirdischen vom Planeten Pluto, die Schotten mit Originalkilt und passender Fliege. Weit dahinter: die Event-Karnevalisten, die auf den letzten Drücker bei Galeria Kaufhof einen Ritter-Kunibert-Umhang aus dem Wühltisch gezogen haben und nun das Plastikschwert schwingen.

Ganz am Ende jedoch rangiert ein anderer: Achim aus Südbaden. Nur den blauen Trainingspullover seines Fußball-Kreisligisten trägt der junge Mann mit dem Bürstenhaarschnitt – was ihn nicht davon abhält, trotzdem in eine neue Identität zu schlüpfen. Als Nachwuchshoffnung des VfB II gibt er sich aus („Mein Monatsgehalt liegt bei 20 000 Euro“) – und feiert in der neuen Rolle bemerkenswerte Erfolge. Es gehört zur Faszination Fasnet, dass zumindest für einen Abend alles möglich ist.

Der Abend schreitet voran, es ist die die Zeit, in der nicht nur Telefonnummern, sondern auch Körperflüssigkeiten ausgetauscht werden und vor den rustikalen Traditionslokalen Menschenschlangen auf Einlass warten. Die Cowboys, Panzerknacker und Hochseekapitäne müssen sich gedulden. Denn der Eingang wird von muskulösen Türstehern kontrolliert, die zwar nicht kostümiert sind, dafür aber so grimmig dreinschauen, als stünden sie nicht vor einer Cannstatter Weinstube, sondern vor einem Brooklyner Szeneclub.

Je später der Abend, desto schlechter die Musik

Saure Nierle und Trollinger werden normalerweise in der Gaststätte Zur Schreinerei am Marktplatz serviert – jetzt kommen die Damen hinterm Tresen kaum damit hinterher, billigen Gin und Tonicwasser in Plastikbecher zu füllen. Deutlich weniger Mühe bereitet es dem Mann, der für die musikalische Unterhaltung zuständig ist, die Gäste in Ekstase zu versetzen. Ein paar Klicks auf seinem Laptop genügen. Eines der eisernen Gesetze bei Faschingspartys lautet: je später der Abend, desto schlechter die Musik.

Es ist nicht die Welt von Gerlinde und Gisela, die mit der Stadtbahn längst zurück nach Stammheim gefahren sind. Und auch Küblerrat Jochen Weigel hat bereits den geordneten Rückzug angetreten und dem Partyvolk das Feld überlassen. Er freut sich schon auf den nächsten Höhepunkt der Cannstatter Fasnet: das traditionelle Schnurren und Schnitzelbänk am Montagabend in den Weinstuben. Tische und Stühle werden dann wieder an ihrem Platz stehen, und die Brauchtumsbewahrer sind wieder unter sich.

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