Womit anfangen? Klar, mit Goethes „Faust“ – im Stuttgarter Schauspielhaus hat Stephan Kimmig die erste Premiere der letzten Saison von Armin Petras besorgt. Den Klassiker aller Klassiker unterzieht er einer radikalen, aber klugen Behandlung.

Stuttgart - Der „Faust“ des Jahres ist in Berlin herausgekommen. Er dauerte sieben Stunden und war das beinharte Abschiedsgeschenk, das Frank Castorf seiner Volksbühnen-Gemeinde nach 25 Jahren Intendanz gemacht hat. Was er da Anfang März im Namen Goethes zusammenrührte, hat das begleitende Programmbuch auf den Punkt gebracht: „Wie man ein Arschloch wird“ – und gemäß dieser Handreichung entwickelte sich der Faust des Martin Wuttke zu einem prächtigen Welt- und Menschenvernichter, dem nun der Stuttgarter Faust nicht nachstehen will. Auch in Stephan Kimmigs Inszenierung, der ersten Premiere der letzten Petras-Saison, pflastern Leichen den Weg des Gelehrten. Aber neben faustischen Verbrechen bleibt im Schauspielhaus doch auch Raum für das Wahre, Schöne, Gute.

 

Elmar Roloff, Grandseigneur des Ensembles, gibt zum Auftakt des dreistündigen Abends die „Zueignung“, in der sich Goethe selbst ins Spiel bringt: Der Dramatiker spricht darin die vorerst schemenhaft umrissenen Figuren der kommenden Tragödie an. Und mit der ruhigen, lebenssatten Stimme eines Mannes, der alles hinter sich hat, hebt Roloffs alter Goethe zu den Versen an: „Ihr naht euch wieder, schwankende Gestalten / die früh sich einst dem trüben Blick gezeigt. / Versuch ich wohl, euch diesmal festzuhalten? / Fühl ich mein Herz noch jenem Wahn geneigt?“ – und je weiter sich Roloff im brüchigen Gleichmaß durch die Gedichtzeilen schmirgelt, desto tiefer sinkt man in seine wunderbare Stimme ein. Man möchte darin baden wie in einer aufgerauhten, aber warmen See.

Faust aus dem Pflegeheim

So weit das Wahre, Schöne, Gute. Dass es in Kimmigs „Faust“ nicht von Dauer sein wird, verrät aber schon die Garderobe des alten Manns. Mag seine Stimme noch so betörend sein, die weiße Unterwäsche, mit der er als verwahrloster Greis auf die Bühne schlurft, ist es nicht. Der arme Schmuddel-Goethe scheint dem Pflegeheim entflohen zu sein, landet im Schauspielhaus nun aber stracks in den Armen des Regisseurs, der ihn und sein Drama einer zwar radikalen, aber doch klugen Behandlung unterzieht. Radikal sind die Striche, die Kimmig und sein Dramaturg Bernd Isele machen: Von der Handlung, die den Weltenforscher Faust unter Anleitung von Mephisto aus dem Studierzimmer in Gretchens Stube treibt, um Unzucht zu treiben, bleibt ein Gerüst – und vom schier unübersehbaren Personal ein famos aufspielendes Quartett, das vom ebenso famosen Bühnenmusiker Malakoff Kowalski zum Quintett aufgestockt wird.

Fünf Menschen für einen gescheiten „Faust“ und für das in Stuttgart ergänzend gespielte „FaustIn and out“ noch dazu – so heißt der Text von Elfriede Jelinek, den sie vor fünf Jahren als kommentierende Fortschreibung des Goethe-Dramas herausgebracht hat. Die Nobelpreisträgerin greift darin den Fall von Josef Fritzl auf, der seine Tochter 24 Jahre lang in einem Verlies eingesperrt und mit ihr sieben Kinder gezeugt hat – Männergewalt in ihrer ungeheuerlichsten Form, die auch im entfesselten Faust angelegt ist, wenn man Jelinek glaubt. Ihr „Sekundärdrama“ solle „kläffend neben dem Klassiker“ herlaufen, sagt sie – und das tut es auch, produktiv verstörend, sobald im Schauspielhaus die eigentlich Goethes halben „Faust“ ausmachende Gretchentragödie beginnt.

Vier Tote sind es, die darin auf der Strecke bleiben: Gretchens Mutter, Gretchens Bruder, Gretchens Kind und schließlich Gretchen selbst, die als verzweifelte Kindsmörderin im Kerker stirbt – und in diese Stationen des weiblichen Leidenswegs schiebt Kimmig die zwischen Kalauer und Tiefsinn aufgespannten Textflächen von Jelinek, in denen sie den Kinderschänder Fritzl mit dem Gretchenschänder Faust kurzschließt. Vom „frei in der Hose baumelnden Willi“ des Mannes ist da die Rede, vom „Ficken als Arbeit“ und vom vier Quadratmeter kleinen Kellerloch mit dem „Kübel fürs Scheißen und Pissen und dem Kübel fürs Fressen“ – und weil das gesamte Ensemble die in jeglicher Hinsicht prosaischen Grätschen organisch ins Spiel baut, gewinnt der Dramenklassiker eine Brisanz, von der Goethe nur alpträumen konnte.

Die Inszenierung, die aus der Kälte kommt

Diese Brisanz entfacht sich aber auch deshalb, weil die Inszenierung – von der „Zueignung“ abgesehen – von Anfang an virtuos mit Kälte spielt: einer Kälte des Sprechens, der Gefühle, der Atmosphäre. Die ungemütliche Temperatur gibt dabei die Bühne von Katja Haß vor, die von oben bis unten in schmerzendem Grellweiß gehalten ist. Der Kubus deutet mit seinen Säulen einen neoklassizistischen Salon an, dessen Zimmer sich aber auch zu einem Operationssaal mit gespenstisch lautlosen Schiebetüren fügen könnten: Das kalte Grellweiß ist auch ein steriles Klinikweiß – und Goethes sich darin bewegender Faust, selbst Doktor und Scharlatan mit Hunderten von Patienten auf dem Gewissen, womöglich das Objekt eines großangelegten Menschenversuchs. Man erinnert sich: Gott und der Teufel haben um die Seele des Mannes gewettet. Der Teufel in Gestalt von Mephisto gewinnt – und Mephisto ist in Stuttgart die überragende Sandra Gerling.

Ihr Grundzustand ist die Apathie. Mit leerem Blick, die blutrote Zunge gelegentlich hündisch aus dem Maul streckend, stiert sie als Mephisto ins Publikum und streichelt mechanisch den leibhaftigen Pudel an ihrer Seite, in dessen Körper sie zu Verkleidungszwecken fahren muss. Aber hinter der Apathie der schwarzgewandeten Grunge-Lady lauert das quecksilbrig Böse in vielerlei Gestalt: als kindliche Unschuld, als charmante Verführung, als zuhälterische Gunst, als herrischer Befehl. Kurzum: als jeweils anders getarnte Heimtücke, die von der geschmeidigen Körpersprache einer sich windenden Schlange begleitet wird – und von der süßen, nölenden, rauen, brüllenden Stimme, die Gerlings zombiehafter Mephisto braucht, um sich Faust immer wieder gefügig zu machen.

Nun ja, Slip drüber!

Der renitente Faust ist auf der porentief reinen Klinikbühne doppelt vorhanden: nicht nur als alter Mann, der ein Alter Ego von Goethe ist und von Roloff gespielt wird, sondern auch als junger Mann, den Paul Grill mit fiebriger Nervosität ausstattet. Er ist ein Forscher, der sich mit Kokain und halluzinogenen Pilzen in andere Bewusstseinssphären katapultiert und diese Sphären souverän mit spielerischer Kraft ausschreitet. Seine Hipster-Präsenz ist fesselnd – und schade nur, dass es auch in dieser Inszenierung zu jenem besonderen Grill-Moment kommt, ohne den keine Grill-Rolle auszukommen scheint: Der Schauspieler zieht, wie schon auffallend häufig in anderen Inszenierungen zuvor, blank. Das macht er gerne. Nun ja. Slip drüber – wobei der Nacktheit seines frei baumelnden Willis in diesem Fall eine gewisse Plausibilität nicht abzusprechen ist: Es ist die Nacht, in der Faust das Gretchen entjungfert.

Gretchen wird gespielt von Lea Ruckpaul, die in der vergangenen Spielzeit nach Stuttgart gekommen ist und sich in kleineren Rollen Stück für Stück nach vorne gespielt hat. Aber jetzt: der Durchbruch! Sie spricht ihr Gretchen nicht romantisch verzagt nach innen, sondern fordernd nach außen. Sie gibt ihr, ohne Goethe zu verraten, eine Klarheit, Wucht und Unbedingtheit und obendrein auch eine feministische Programmatik, auf der Jelineks kläffende Faust-Variation mit Leichtigkeit aufsetzen kann. Mit dieser Rolle hat sich die Jungschauspielerin nachdrücklich für weitere Aufgaben empfohlen – vielleicht ja auch unter der Regie von Claus Peymann, der im Premierenpublikum saß und im Februar im Schauspielhaus „König Lear“ inszenieren wird. Für diesen Shakespeare braucht er drei starke Frauen. Zwei hat der Altmeister an diesem Abend gesehen: Neben Sandra Gerling eben auch Lea Ruckpaul in einer Inszenierung von Stephan Kimmig, die nicht immer aus einem Guss ist, in viele Richtungen ausfließt und doch die Spannung hält. Faust in der Klinik: er bleibt dort ein „Arschloch“, hat sich den Besuch der Zuschauer aber trotzdem verdient.

Aufführungen
am 13., 17. und 21. Oktober sowie am 7., 15. und 25. November