Christian Lindner plädiert für einen „freundlichen“ Umgang mit London. Im Interview zeigt der FDP-Chef Verständnis für Merkels diplomatischen Tonfall beim Brexit.

Berlin -

 
Herr Lindner, Großbritannien befindet sich nach dem Brexit-Votum am Rande einer Staatskrise. Hoffen Sie darauf, dass es am Ende der Chaoswochen doch nicht zu einem EU-Austritt kommt?
Ich wäre glücklich, wenn diese Fehlentscheidung noch zu meiner aktiven politischen Zeit revidiert würde. Aber ich bin Realist. Deshalb muss man mit der Entscheidung der Briten umgehen, auch wenn ich es bedauere, dass mit ihrem EU-Austritt die Linien in Europa in die falsche Richtung verschoben werden. Denn Großbritannien war immer ein starker Anwalt für Marktwirtschaft, solide Finanzen und Subsidiarität. Jetzt kommt es darauf an, dass Deutschland dafür eintritt, was mit Herrn Gabriel leider unwahrscheinlich ist. Hoffentlich wird London rasch handlungsfähig. Die EU sollte sich davor hüten, die Briten vorzuführen. Festigkeit in der Sache ist nötig, keine Demütigung. Großbritannien muss weiter politisch und wirtschaftlich ein Partner bleiben.
Was ist nach dem Brexit-Votum der Briten die bessere Strategie: eine klare Haltung gegenüber London? Oder ist Abwarten eine bessere Vorgehensweise?
Es muss rasch Klarheit geben, wie es weiter geht. Niemand hat ein Interesse an einem Schwebezustand. Es darf keinen Rabatt geben, um keine falschen Anreize für eventuelle Nachahmer zu setzen. Aber ich unterstütze Kanzlerin Merkel, wenn sie sagt, es dürfe keinen Überbietungswettbewerb der garstigen Worte geben. Es muss einen Weg geben, mit dem auch unsere wirtschaftlichen Interessen gewahrt bleiben. Es ist verrückt, dass Teile der AfD das Votum bejubelt haben, denn für Deutschland und unsere Wirtschaft wird das eine teure Angelegenheit.
Kanzlerin und Außenminister treten in einer Lage, auf die man sich seit langem vorbereiten konnte, mit unterschiedlicher Strategie gegenüber? Was sagt das aus über die deutsche Außenpolitik?
Das sagt über den Zustand der großen Koalition etwas aus. Die Regierung ist nicht mehr in der Lage, große Herausforderungen entschlossen anzupacken. Wir haben das ja schon in der Flüchtlingskrise erlebt, wo wir noch immer auf ein rational unterfüttertes Einwanderungsgesetz warten, das weder mit Ängsten spielt noch unerfüllbare Hoffnungen weckt. Wir sehen es in der Wirtschaftspolitik, wo die Sozialbeiträge der Beschäftigten bald auf über 40 Prozent des Bruttolohns steigen und wir sehen es jetzt beim Umgang mit den Folgen des Brexit. Diese Regierung wird nur noch zusammen gehalten durch die Angst vor den Wählerinnen und Wählern.
Ist die Antwort auf den Brexit eine Vertiefung der EU, etwa mit Blick auf eine gemeinsame Sozial- und Steuerpolitik?
Das wäre die völlig falsche Schlussfolgerung. Statt über Vertiefung, Erweiterung und Zentralisierung nachzudenken, wünsche ich mir ein Europa, das auf der Basis gemeinsamen Rechts Autonomie zulässt und den Wettbewerb der Ideen und der politischen Konzepte ins Zentrum stellt. Europa ist stark, wenn es die Idee der Freiheit wieder entdeckt, wenn es Chancen schafft, statt reglementiert, wenn es den freien Austausch von Menschen, Ideen, Waren und Kapital befördert. Europa muss wieder in der Vielfalt der regionalen Problemlösungen seine Stärke sehen. Es macht keinen Sinn, den Spaniern die Siesta im Austausch mit dem deutschen Ladenschluss nehmen zu wollen.
Wie entgegenkommend darf die EU gegenüber Großbritannien sein, wenn der Prozess nicht zu einem interessanten Modell für Länder wie Ungarn und Polen werden soll?
Freundschaftlich und verbindlich. Der erhobene Zeigefinger aus Brüssel ist unangebracht, allein schon deshalb, weil knapp die Hälfte der Briten innerhalb der EU bleiben wollte. Allerdings wird Großbritannien die gleichen Bedingungen zu akzeptieren haben, wie andere Staaten, die Freihandel mit der EU betreiben, ohne Mitglied zu sein – beispielsweise Norwegen. Wer in unseren Binnenmarkt will, muss für den Verzicht auf Zölle zahlen und die Regeln unseres Binnenmarktes akzeptieren, ohne dass er darauf Einfluss hat. Unter dem Strich haben sich deshalb die Briten sicher nicht für einen klugen Deal entschieden.