In der Wahlnacht sind die Liberalen geradezu implodiert. Die FDP ist erstmals in ihrer bundesrepublikanischen Geschichte aus dem Bundestag herausgefallen. Wer steckt in einer schweren Krise: Ist es der Liberalismus, oder ist es die FDP?

Stuttgart - Das eigentliche Signal der Bundestagswahl vom 22. September lautet: Wir haben eine linke Mehrheit im Lande. Die sozialistische Linkspartei ist zur drittstärksten Kraft im Parteiensystem aufgestiegen und die FDP erstmals in ihrer bundesrepublikanischen Geschichte aus dem Bundestag herausgefallen. Als am Wahlabend die Nachricht über die Bildschirme ging, die Liberalen hätten den Einzug in das Parlament verfehlt, löste das in den Parteizentralen von SPD, Grünen und Linken ein Triumph- und Hohngelächter aus. Selbst in Teilen der Union verspürte man Genugtuung. Da stellt sich die Kernfrage: Wie ist es um den Liberalismus in Deutschland bestellt? Wird er in seiner organisierten Form überhaupt noch gebraucht?

 

An Warnhinweisen hat es nicht gefehlt. Bei der Niedersachsenwahl zu Beginn dieses Jahres hatten die CDU-Wähler die FDP mit hunderttausend Zweitstimmen gedopt und die Liberalen damit fast an die zehn Prozent herangeführt, aber diese Stimmen fehlten am Ende der Union, die nicht mehr in der Lage war, eine Koalition zu bilden – und die den Regierungssitz abgeben musste.

Die Situation ist so schlimm, wie sie noch nie war

Es lag auf der Hand, dass die Union sich bei der Bundestagswahl nicht noch einmal darauf einlassen wollte und ungeachtet der beschämenden Bettelei der FDP eine Zweitstimmenkampagne vermied. Die Wähler haben sich aber auch deshalb abgekehrt, weil sie nicht vom Liberalismus, wohl aber von der FDP enttäuscht waren. Diese hatte ihren eindrucksvollen Wahlsieg von 2009 leichtfertig verschenkt und die daraus folgenden Führungsprobleme nicht in den Griff bekommen. Es fehlte an Führungsfiguren und an Inhalten. Unter Merkel trug die Partei deren Entscheidungen zum Euro brav mit, und sie duldete nach Merkels abrupter Energiewende die nahezu vollständige Vertreibung des Marktes aus dem Energiesektor, obwohl planwirtschaftliche Tendenzen früh erkennbar waren.

Überhaupt blieben und bleiben die großen Debatten ungeführt: Wo endet Gerechtigkeit? Und wo beginnt Gleichheit? Was bedeutet Privatheit im Zeitalter von Spähtechnologie und NSA-Affäre? Ist Europa nur als Europa der Regulierer denkbar? Und warum empfinden so viele Menschen das Wort „Eigenverantwortung“ als Bedrohung? Da die FDP in der Wahlnacht geradezu implodiert ist, liegen nun ihre Reste am Boden. Die Situation ist so schlimm, wie sie noch nie war, aber darin kann auch ein Neuanfang stecken. Analysiert man die jüngsten Wahlergebnisse genauer, dann kann man nicht sagen, alle Wählerschichten hätten sich vom politischen Liberalismus abgekehrt. Was sie nicht mehr haben wollten, war der organisierte Liberalismus, wie er sich zuletzt dargeboten hatte. Auf dieser Erkenntnis gilt es aufzubauen.

Liberalismus heißt nicht Egoismus

Der Mann, auf den alles schaut, ist Christian Lindner, weil er die Katastrophe hatte kommen sehen. Er verfügt über die intellektuelle Kapazität, auch einer derzeit desinteressierten Öffentlichkeit klarzumachen, dass Liberalismus nicht einfach Egoismus ist, sondern ein konstruktives, kluges ordnungspolitisches Prinzip, von dem eine ganze Gesellschaft und gerade auch ihre schwächeren Glieder profitieren.

Dies deutlich zu machen ist lange versäumt worden, und gerade hier hat eine neue Führung Pionierarbeit zu leisten. Leicht wird sie es dabei nicht haben, denn Wesen und Begriff der Freiheit haben hierzulande keinen allzu hohen Stellenwert. Das ist erstaunlich, denn wir alle leben von deren Voraussetzungen.

Zur Erklärung muss man wohl in die Geschichte zurückgreifen. Nach dem Entstehen des deutschen Liberalismus, der zwischen Wartburgfest und Paulskirche seine wohl aufregendste Zeit hatte, gründete sich 1861 die Deutsche Fortschrittspartei. Sie war die erste Programmpartei überhaupt, denn sie entstand noch vor Ferdinand Lassalles Allgemeinem Deutschem Arbeiterverein.

Ein Zuhause für den Fortschrittsgeist des Bildungsbürgertums

Die Liberalen standen in klarer Opposition zu Bismarcks preußischer antiparlamentarischer Machtpolitik. Doch im Verfassungskonflikt über die Bewilligung höherer Militärausgaben spaltete sich der rechte Flügel der Liberalen ab. Er wollte lieber vor Bismarck einknicken als die Rechte des Parlaments verteidigen. Weil dem organisierten Liberalismus schon damals ein stabiles Rückgrat fehlte, wurde der Spaltpilz zum Markenzeichen der stets unsicheren Liberalen.

In der Weimarer Republik verstanden sich die Liberalen, die Deutsche Demokratische Partei, als Verfassungspartei und drückten der jungen Republik ihren rechtsstaatlichen Stempel auf. In dieser Partei war der wache und fortschrittliche Geist des Bildungsbürgertums maßgeblich vertreten. Dazu zählen Max Weber, Theodor Wolff, Friedrich Naumann, Walther Rathenau, Reinhold Maier und andere. Im Januar 1919 gewann die DDP bei den Reichstagswahlen 18,5 Prozent der abgegebenen Stimmen. Das war das höchste Ergebnis, das eine liberale Partei jemals in Deutschland erreichen konnte.

Schwach durch Erfolg

Doch schon bald darauf waren die Liberalen wieder ihrem unseligen Hang zur Spaltung verfallen. Unter dem Druck von rechts und links sank der Wähleranteil bis 1932 auf nur ein Prozent. Gustav Stresemanns Deutscher Volkspartei, der rechtsliberalen Erbin der Nationalliberalen, erging es ähnlich. Während der Weltwirtschaftskrise driftete diese Partei nach rechts und versank, wie der liberale Gedanke überhaupt, in der Bedeutungslosigkeit.

Nach dem Schock der Hitler-Jahre und des Zweiten Weltkriegs besannen sich die Liberalen wieder auf ihre Einheit. Unter Führung von Theodor Heuss wurde von ehemaligen Mitgliedern der DDP und DVP die FDP gegründet. Als „Zünglein an der Waage“, als Funktionspartei und Mehrheitsbeschaffer war sie dann in unterschiedlichen Bundesregierungen fast ein halbes Jahrhundert lang vertreten. Die Bundesrepublik konnte fast immer stabil regiert werden.

Sehnsucht nach Liberalität

Doch unter der Hand begann die Basis wieder zu bröckeln. In Auseinandersetzungen mit der Brandt’schen Ostpolitik kam es zu Abspaltungen am rechten Rand. Dann, während des dramatischen Endes der sozial-liberalen Koalition, folgte 1982 die Abspaltung des linken Flügels. Der Parteiliberalismus war einfach zu anfällig für Schwankungen und Druck von außen. Der Bazillus, der schon in den Liberalen des 19. Jahrhunderts steckte, machte sich wieder bemerkbar.

Immerhin, nach der Großen Koalition erzielte die FDP 2009 ihr bestes Nachkriegsergebnis von 14,6 Prozent. Dieses Wahlergebnis ist der Beweis dafür, dass in Deutschland eine Sehnsucht nach Liberalität und auch nach organisiertem Liberalismus besteht, der ihm Ausdruck gibt und in die Verhältnisse hineinwirkt.

Fairerweise muss man zugeben, dass es die FDP schwerer hat als andere Parteien. Sie verfügt über keine geschlossene Ideologie. Sie muss auf die wechselnden Umstände anders reagieren als die Konkurrenten. Doch dazu bedarf es einer starken Führung und des Festhaltens an den wenigen Grundüberzeugungen.

Abtreten nach erfolgreicher historischer Mission

Im Alltag ist das schwer umzusetzen, vor allem dann nicht, wenn in Krisenzeiten das Wahlvolk nach Sicherheit verlangt. Dann wird nach dem Staat gerufen, der in der deutschen Geschichte immer eine besondere Rolle gespielt hat. Tatsächlich ist wie wohl nie zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik der Ruf nach mehr Staat und staatlicher Regulation zum allgemeinen Konsens geworden. Hinzu kommt: der Liberalismus ist schwach geworden auch wegen seiner Erfolge, an denen sich längst auch die anderen Parteien orientieren.

Die Freiheit zur persönlichen Entfaltung muss nicht mehr verteidigt werden. Selbstverwirklichung hat sich als hoher Wert durchgesetzt bis in die konservativen Milieus hinein. Weil all das selbstverständlich geworden ist, vergisst man, dass es die Liberalen waren, die die Grundlagen für den freiheitlichen Rechtsstaat geschaffen haben. Der Einwand liegt nahe, nach erfolgter historischer Mission könne die Partei getrost abtreten.

Die FDP muss sich ihrer historischen Tiefe versichern

Dieses Argument übersieht jedoch etwas Wesentliches, nämlich dass der Liberalismus keine Idee des Zeitgeistes ist, sondern auf Dauer gilt. Jede Epoche mit ihren Entwicklungen muss die liberale Kritik herausfordern, sofern sie sich nicht an der Mündigkeit des Einzelnen und an der Freiheit orientieren. So gesehen wirkt der liberale Gedanke wie ein Störfaktor und stößt deshalb nicht immer auf Gegenliebe. In der Tat stellt sich die Frage: Wie verteidigt man Freiheit unter den Bedingungen der Freiheit?

Die FDP ist eine staatsskeptische Partei. Sie will so viel Staat wie nötig und so wenig Staat wie möglich. Das ist vernünftig, denn unter den Staatsgläubigen sitzen auch die Feinde der Freiheit. Aber ausgerechnet 2009, als die Finanzkrise ihren Höhepunkt erreichte, musste sich der Staat schützend vor seine Bürger stellen, und die FDP war nun Regierungspartei. Der Staat wurde zur letzten Hoffnung auch für FDP-Wähler, die dysfunktionalen Märkte noch einzuhegen.

Statt in Sprachlosigkeit zu versinken, hätte die FDP-Führung darauf verweisen können, dass liberale Vordenker wie Alexander Rüstow, Wilhelm Röpke, Friedrich von Hayek oder Walter Eucken schon lange zuvor vor einem entgrenzten Kapitalismus gewarnt und klare Regeln gefordert hatten. Denn nicht jeder Eingriff des Staates ist schon Sozialismus. Man muss auch an die liberalen Vordenker erinnern und deren Denken an den aktuellen Vorgängen spiegeln. Eine FDP, die wieder Tritt fassen will, braucht auch historische Tiefe, sonst wirkt ihr Liberalismus zu oberflächlich.