Rainer Brüderle mag Spitzenkandidat sein, aber das Sagen hat der Vizekanzler Philipp Rösler. Der wird auf einmal mutig und fordert den Koalitionspartner – und auch seine eigene Partei heraus.

Berlin - Es ist sein Werk, und Philipp Rösler genießt den Moment, auch wenn soeben ein anderer die Jubelrufe und den nicht enden wollenden Applaus erntet. Der 40-Jährige steht am Rednerpult, wartet ab, lächelt zufrieden und auch ein wenig grimmig, einen Fußball in Händen, aus gelben und blauen Stücken gefertigt, den Farben seiner Partei. Die Delegierten der FDP sollen Rainer Brüderle ruhig feiern, der zuvor 80 Minuten lang erzählt hat von einer liberalen Welt, wie sie ihm gefällt. Denn sie bejubeln ja zugleich jenes Gepräge, das Rösler der Partei im Januar aufgezwungen hat, in einer Situation, in der er selbst mit dem Rücken zur Wand stand. Manchmal sieht es so aus, als könne Rösler noch immer nicht fassen, was ihm tatsächlich gelungen ist: Im Amt zu bleiben, nachdem ihn nahezu die gesamte Führung der Partei schon abgeschrieben hatte. Bis dann die FDP bei der Wahl in Röslers Heimatland Niedersachsen entgegen aller Erwartung 9,9 Prozent holte.

 

Brüderle, den die begeisterten Delegierten mit ihrem Jubel soeben symbolisch zum Spitzenkandidaten der FDP bei der Bundestagswahl küren, verschwindet auf den großen Bildschirmen rechts und links der Bühne für ein paar Sekunden hinter dem schmalen Rücken Röslers. Es ist sicher so nicht beabsichtigt, aber es zeigt die Rangordnung: Vorne steht Rösler, der Chef, dahinter Brüderle, sein erster Angestellter, sein „Abteilungsleiter Wahlkampf“.

Brüderle sieht sich als Mittelstürmer

Brüderle hat sich selbst als „Mittelstürmer“ beschrieben, Typ Miro Klose, der ja auch in der Pfalz, in Kaiserslautern, das Knipsen gelernt habe. Deshalb der Fußball, den Rösler dem 67-Jährigen Goalgetter überreicht. Gefolgt von einer wenig herzlichen, hölzernen Umarmung, die wohl eher dem Bedürfnis der Delegierten nach Einigkeit geschuldet ist. Ehrliche Zuneigung sieht anders aus.

Aber die beiden müssen ja auch keine guten Freunde mehr werden, um erfolgreich zu sein. Ein geklärtes Arbeitsverhältnis reicht ja schon. Das ist es auch, was die Delegierten nach dem Ende der Rede Brüderles wohl am meisten bejubeln: dieses Bild der Eintracht, das die Hoffnung nährt, dies könnte tatsächlich das Ende jenes monatelangen Streits bedeuten, der die FDP fast zerrissen und in Umfragen bei vier Prozent einmauert hat.

Freiheitskampf gegen Fuzzis

Brüderle ist angeschlagen, schwer erkältet, noch am Freitag fürchteten seine Leute um seine Stimme. Vielleicht war seine Rede auch deshalb ruhiger als gewohnt, eher süffisant als polternd, auch wenn am Ende doch wieder vor allem die    Ruppigkeiten des Pfälzer Kampfnuschlers hängenbleiben. Etwa das für Brüderle so typische finale Gebrüll, mit dem er diesmal den Marschbefehl gegen alles Rote und Grüne zwischen Freiburg und Flensburg ausgab: „Wir überlassen diesen Fuzzis, diesen fehlprogrammierten Typen nicht unser Land.“ Auch wenn der FDP oft regelrecht Hass entgegenschlage, werde sie sich den „Gegnern der Freiheit“ nicht beugen. Die kleine FDP als David im heroischen Freiheitskampf gegen einen übermächtigen sozialistischen Goliath: so sieht sich die Partei halt nun mal am liebsten.

Zwischen plumper Wahlkampfprosa steckte der Spitzenkandidat das Feld ab, das er als von Rösler verpflichteter Toregarant inhaltlich bearbeiten will. Es ist ein ziemlich großer Spielplatz, so viel steht fest, Raum genug, auch vom Rest der Führungscrew im Wahlkampf erschlossen zu werden. Wirtschaft und Staatsfinanzen, Bildung und Bürgerrechte, Europa und die Welt. Brüderle will in den ruhigeren Passagen weg vom Schmalspur-Liberalismus früherer Tage, als einem zur FDP eigentlich nur noch einfiel: mehr Netto vom Brutto. Er entwirft auf dem Parteitag eine liberale Gesamtschau, die vielleicht die Wähler nicht in allen Einzelheiten interessieren wird, die aber den verunsicherten Delegierten der FDP an diesem Tag das Gefühl zu vermitteln vermag, letztlich doch im richtigen Verein zu sein.

Die Sehnsucht nach Eintracht

Rösler und Brüderle ist nach den harten Kämpfen der vergangenen Wochen wichtig, die gesamte Parteispitze einzubinden. Viel Zeit verwenden sie darauf, jedes Mitglied der Führung mit sehr persönlichen Worten zu würdigen. Die FDP soll im Wahlkampf als Team erkennbar und keine One-Man-Show sein wie noch zu Zeiten, als Guido Westerwelle die Partei führte. Man wird sehen, wie lange das hält. Schon nörgeln die Ersten, sagen, das könne nicht gutgehen, weil jeder dieser eigensinnigen Protagonisten dazu neige, auf eigene Rechnung zu arbeiten. Aber die Delegierten geben sich gern der Vorstellung hin, die inszenierte Eintracht könnte mehr als nur eine Illusion sein.

Eine Partei, die FDP zumal, funktioniert wie ein Rudel. Ein Leitwolf wird ja auch nicht einfach nur ausgewählt. Das Rudel will sehen, ob dieser auch zuschnappen kann. Rösler hat dies im Machtkampf Ende Januar getan. Und auf einmal wird mit ihm anders umgegangen. Auf dem Parteitag ist dieser Kontrast gut zu beobachten. Sogar Hans-Dietrich Genscher lässt sich jetzt gern an seiner Seite blicken. Man begegnet Rösler bis auf Weiteres mit Respekt. Ist halt doch nicht nur der nette Kerl, dieser Rösler.

Das muss in der FDP nicht lange gutgehen, aber Rösler scheint willens, diesen Moment der Stärke zu nutzen, um endlich einzulösen, was er zu Beginn seiner Amtszeit liefern wollte: eine thematisch vielschichtigere und damit weniger leicht zu isolierende Partei. Und so war Rösler bemüht, Brüderles ohnehin breit gefächertes Themenangebot noch zu ergänzen. Zum ersten Mal nutzte der in Vietnam geborene Parteichef seine Herkunft als Mittel der Politik, warb mit dem Verweis auf seine eigene Biografie für Weltoffenheit, für die doppelte Staatsbürgerschaft und eine Reform der Einwanderungspolitik in Deutschland. Wichtig sei nicht, wo jemand herkomme, sondern wo er hinwolle, rief er den Delegierten zu. Rösler will außerdem die Union bei der Gleichstellung homosexueller Paare unter Druck setzen. Und er will die eigene Partei davon überzeugen, dass Mindestlöhne, wenn sie nicht gesetzlich verordnet und auch nicht flächendeckend sind, vielleicht doch keine so schlechte Idee sind.

Er hat sich viel vorgenommen, jetzt, wo er nicht nur Chef ist, sondern auch als solcher wahrgenommen wird. Beim Mindestlohn rüttelt Rösler an den Grundfesten seiner Partei, und bei der Homo-Ehe stellt er den Wertekanon der Konservativen in der Union infrage. Man wird sehen, wie weit seine Worte reichen. Beim Parteitag reichten sie für 85,7 Prozent.