Die neu gebaute Erstaufnahmestelle in Tübingen steht seit einem halben Jahr leer. Flüchtlinge werden dort frühestens Mitte 2017 einziehen, wenn überhaupt. Auch eine Zwischennutzung ist gescheitert – weil Steckdosen fehlen.

Tübingen - Ganz ansehlich ist sie geworden: die Erstaufnahmestelle für Flüchtlinge in Tübingen. Sie kostete elf Millionen Euro und ist die einzige im ganzen Land, die neu gebaut wurde. Seit einem halben Jahr ist sie bezugsfertig – doch alle Versuche, Asylbewerber in den rot-weiß-grauen Flachbauten unterzubringen, scheiterten. Gründe dafür gibt es mehrere. Weil die Zahl der ankommenden Flüchtlinge rapide zurückging, blieben die Betten in den Neubauten nach der Fertigstellung leer. Das dürfe nicht sein, wo doch in Tübingen Wohnraum so knapp ist, fand der damals noch amtierende Tübinger Regierungspräsident Jörg Schmidt und setzte sich im April für eine Interimsnutzung ein. „Dem Landratsamt wird damit eine gute und schöne Einrichtung für die vorläufige Unterbringung von Flüchtlingen zur Verfügung stehen“, sagte er sich und freute sich bereits für jene Menschen, die vor Monaten schon nach Deutschland gekommen sind und eine Bleibe benötigen.

 

Aus der vollmundig angekündigten Vereinbarung zwischen dem Regierungspräsidium Tübingen und dem Landratsamt Tübingen wurde aber nichts. Die Bauten mit Platz für 250 Menschen haben keine Steckdosen auf den Zimmern, keinen Küchenbereich, und beim Brandschutz hätte nachjustiert werden müssen. Um Flüchtlinge für eine längere Zeit zu beherbergen, gelten andere bauliche Standards als für eine Erstunterbringung. Auf eine halbe Million Euro wurden die Umbauten geschätzt. Zu teuer, hieß es damals, eine vorläufige Nutzung komme nicht mehr infrage.

Die Zimmer sind komplett ausgestattet, aber werden nicht genutzt

So stehen die mit Betten, Tischen, Stühlen und Spinden ausgestatteten Zimmer bis heute leer – und werden wohl so schnell nicht bezogen. „Frühestens Mitte 2017 wird in der Erstaufnahmestelle der Betrieb aufgenommen“, sagt Carsten Dehner, Pressesprecher beim baden-württembergischen Innenministerium, und bittet um Verständnis. Sicher hätte die Einrichtung zeitiger genutzt werden können, aber das Ministerium sei mit einer Standortkonzeption für die Unterbringung von Flüchtlingen im ganzen Land beschäftigt gewesen. „Jeder Standort ist auf den Prüfstand gestellt worden, auch Tübingen“, sagt Dehner – das habe gedauert. Im Laufe der ersten Hälfte dieses Jahres soll das Kabinett das neue Konzept beschließen.

Offen ist, ob die Container in Tübingen überhaupt jemals benötigt werden. Nach bisheriger Planung soll es in jedem der vier Regierungsbezirke eine Landeserstaufnahmeeinrichtung geben und zudem je eine Erstaufnahmeeinrichtung in Giengen an der Brenz und in Tübingen. Letztere würden je nach Bedarf im „Stand-by-Betrieb“ als zusätzliche Unterbringungskapazität vorgehalten, erklärt der Ministeriumssprecher. „Das ist ein Instrument, um flexibel auf die jeweiligen Flüchtlingszahlen reagieren zu können.“ Sowohl der Caterer als auch das Sicherheits- und Betriebspersonal beginnen erst dann mit ihrer Arbeit, wenn tatsächlich Asylbewerber nach Tübingen verlegt werden. Die Unterkunft ist für besonders schutzbedürftige Flüchtlinge wie Frauen, Kinder oder Behinderte vorgesehen. Für diese Gruppe soll es 250 Plätze in Karlsruhe und weitere 250 in Tübingen geben.

Der Leerstand ärgert Oberbürgermeister Boris Palmer

Der Leerstand ist längst zum Politikum geworden. „Das ist für alle Beteiligte ärgerlich“, sagt Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer. Besonders empört ihn, dass die Gebäude nur mit einer Minimalausstattung errichtet wurden. „Mich wurmt es, dass man eine Anschlussnutzung für Studierende nicht gleich miteingeplant hat“, betont der Rathauschef. Er habe in den Debatten mit dem Land darauf gedrängt, sei allerdings mit seinem Vorschlag nicht gehört worden. Der Landesbetrieb Vermögen und Bau habe dies abgelehnt.

Warum nicht mit mehr Weitblick gebaut wurde, versucht Ministeriumssprecher Dehner zu erklären. „Das Land war unter großem Handlungsdruck.“ Es habe schnell gehen müssen angesichts der bis zu 40 000 Flüchtlinge, die in Baden-Württemberg ein Dach über dem Kopf brauchten. „Man musste aus dem Nichts heraus Kapazitäten schaffen“, betont der Pressesprecher. Außerdem sei aufgrund der Flüchtlingsströme niemand von einer Nachfolgenutzung ausgegangen. Das öffentliche Haushaltsrecht hätte es deshalb nicht hergegeben, mehr Geld für eine höhere Ausstattung auszugeben. Dass dies aus heutiger Sicht eine umstrittene Entscheidung ist, gibt Dehner zu: „Man würde es im Nachhinein vielleicht anders bauen.“ Auch Annette Ipach-Öhmann, die Direktorin des Landesbetriebs Vermögen und Bau, hat einen differenzierten Blick auf die Tübinger Bauten. „Das war vielleicht nicht die intelligenteste Lösung, aber unter den Umständen die richtige.“ Man habe nicht einfach „eine Vorinvestition ins Blaue hinein“ machen können, sagt sie.

Für OB Palmer ist klar: „Es kann sein, dass die Gebäude nicht benötigt werden, sie sind Reservekapazität für einen möglichen neuerlichen Ansturm.“ Fest steht allerdings, dass die Zukunft des Neubaus Abriss heißen wird. „Es gibt eine Vereinbarung mit dem Land, dass die Bauten nach fünf oder spätestens nach zehn Jahren entfernt werden“, sagt Palmer. Das Bauland soll dann anderweitig genutzt werden.