Die Zweifel von Lungenärzten an den Grenzwerten für Schadstoffe in der Luft stoßen die Debatte um Fahrverbote neu an. Doch selbst wenn sich die Wissenschaft einig wäre – wie leicht ließen sich die Grenzwerte überhaupt ändern? Und ist der politische Wille dafür da?

Korrespondenten: Markus Grabitz (mgr)

Brüssel - Die Zweifel von Lungenärzten an den Grenzwerten für Schadstoffe in der Luft stoßen die Debatte um Fahrverbote neu an. Die Gruppe von 111 renommierten Ärzten um Dieter Köhler hatte in ihrer Stellungnahme kritisiert, es gebe derzeit „keine wissenschaftliche Begründung für die aktuellen Grenzwerte“ für Feinstaub und Stickoxide. Sie forderte eine Neubewertung der Studien. Doch was müsste politisch passieren, um die Grenzwerte zu ändern?

 

Wer muss tätig werden?

Die Grenzwerte werden in der EU beschlossen. Die EU-Kommission müsste dafür eine neue Luftreinhaltungsrichtlinie vorschlagen. FDP-Chef Christian Lindner fordert Angela Merkel auf, diesbezüglich Druck zu machen. „Wir müssen jetzt untersuchen, ob die EU-Schadstoffgrenzwerte tatsächlich dem neuesten medizinischen Kenntnisstand entsprechen – dafür brauchen wir ein politisches Moratorium“, sagte er unserer Zeitung: „Es ist erreichbar, wenn die Bundeskanzlerin dies in Brüssel zur Chefsache macht.“

Wie lange würde eine Änderung dauern?

Selbst wenn es zu einem solchen Kommissionsvorschlag käme, wären aber – wie bei jedem Gesetzgebungsverfahren auf EU-Ebene – erst einmal die beiden Gesetzgeber am Zug: Alle 27 Mitgliedstaaten, vertreten durch ihre Umweltminister, sowie das Europaparlament. Das Verfahren dauert mindestens ein Jahr, häufig länger. Klar ist, dass die Kommission frühestens 2020 die Initiative ergreift, da 2019 wegen der Europawahl nichts mehr passiert. Und in der jetzigen Kommission ist der politische Wille nicht vorhanden. EU-Umweltkommissar Karmenu Vella verteidigt die Grenzwerte: Sie seien von allen Mitgliedstaaten und dem Europaparlament verabschiedet worden und „basieren auf soliden wissenschaftlichen Erkenntnissen der Weltgesundheitsorganisation, der weltweit führenden Autorität in Gesundheitsfragen“. Bundesumweltministerin Svenja Schulze (SPD) sieht es ähnlich.

Überprüft die Kommission die Grenzwerte?

Anders als auf nationaler Ebene werden EU-Gesetze regelmäßig überprüft. Eine derartige turnusgemäße Überprüfung der Luftreinhaltungsrichtlinie, ein Fitnesscheck, läuft gerade. Ende des Jahres soll das Ergebnis vorliegen. Umweltkommissar Vella hat bereits erklärt, dass es bei einer Überprüfung zu Änderungen kommen könnte.

Kann das Europaparlament etwas tun?

Es hat nicht die Gesetzgebungsinitiative. Es kann nur politischen Druck aufbauen. Dies versucht der Baden-Württemberger Norbert Lins (CDU). Auf seine Initiative hin hat das Europaparlament eine Studie zu den Messstellen in Auftrag gegeben. Die Studie soll prüfen, ob die Behörden in den Mitgliedstaaten jeweils die gleichen Kriterien bei der Auswahl der Messstellen für die Luftqualität anlegen. Die Auswahl der fixen Messstellen in jeweils zehn Kommunen in mehreren Mitgliedsländern der EU sollen von den Experten kritisch unter die Lupe genommen werden. Die Ergebnisse der Studie sollen Mitte März vorliegen. Lins nennt die Fahrverbote in Deutschland „unverhältnismäßig“: „Deutschland befindet sich in einer Schieflage. Kein anderes europäisches Land hat Fahrverbote von Euro-4-Fahrzeugen. Nur Stuttgart hat die komplette Innenstadt gesperrt“, so Linz. Die Debatte um Grenzwerte und Messstandorte zeige, dass hier dringend eine ergebnisoffene und wissenschaftliche Diskussion geführt werden muss. Er hält eine Veränderung der Grenzwerte für möglich: „Sobald wir die Ergebnisse der Studie zu Messstellen und auch neue Erkenntnisse zu den Grenzwerten haben, müssen die richtigen Schlüsse für die Zukunft der europäischen Luftreinhaltungsrichtlinie getroffen werden.“

Muss die WHO tätig werden?

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hatte 1999 den Grenzwert von 40 Mikrogramm Stickoxiden empfohlen. Er wurde von der EU 2008, als die Luftreinhaltungsrichtlinie von den Mitgliedstaaten und EU-Parlament beschlossen wurde, übernommen. Es heißt, derzeit laufe bei der WHO eine Überprüfung der wissenschaftlichen Grundlagen für die Empfehlung von 40 Mikrogramm. Auch eine andere Empfehlung der WHO könnte die Debatte beeinflussen.