Felix Ensslin, Ästhetik-Professor an der Stuttgarter Kunstakademie, kehrt zu seinen Theaterwurzeln zurück. Im Nord zeigt er seine Version von Orwells „Animal Farm“ – und stellt die Frage, wie sich Mensch und Gesellschaft heute verändern lassen.

Stuttgart - Wie kommt ein Stuttgarter Kunstprofessor dazu, in einer belgischen Kleinstadt, von der man noch nie gehört hat, ein Theaterstück auf Deutsch zu inszenieren? Auf diese Frage erwartet man eine Antwort, die so verschlungen ist wie die Wegführung am Frankfurter Flughafen. Dabei ist alles noch vergleichsweise einfach: Felix Ensslin wohnt in Köln und ist dort mit dem Intendanten des Agora-Theaters in Sankt Vith befreundet, einer deutschsprachigen Gemeinde in Ostbelgien. Und da er mal wieder tun wollte, was er vor seiner Akademikerkarriere sieben Jahre lang am Weimarer Nationaltheater getan hat, brachte er dort als Dramaturg und Regisseur eine Inszenierung heraus, die jetzt als Gastspiel von Belgien nach Württemberg reist: „Animal Farm“ nach George Orwell, zu sehen am Mittwoch und Donnerstag im Nord.

 

Jetzt aber kommt Ensslin, den wir in einem Stuttgarter Innenstadtcafé treffen, gerade vom Bodensee. Eine Woche lang war er in Bodman, wo er mit fünfzehn Studenten ein Blockseminar zum Antigone-Mythos abgehalten hat. „Ich liebe konzentrierte und intensive Arbeitsformen“, sagt der von den dramaturgischen „Free-Association-Sessions“ noch sichtlich enthusiasmierte Kunstprofessor. Seit 2009 lehrt er an der Aka „Ästhetik und Kunstvermittlung“, im Oktober kommt ein weiterer, von ihm konzipierter Studiengang dazu, der erste seiner Art überhaupt: „Körper, Theorie und Poetik des Performativen“, das Ziel verfolgend, Performances als Darstellungsform nicht nur theoretisch zu fundieren, sondern auch praktisch umzusetzen. Ensslin ist ein Superintellektueller, der mit Slavoj Zizek, einem der einflussreichsten Denker der Welt, per Du ist und der durchaus weiß, dass nicht jeder mit seiner Schlauheit mithalten kann. „Man muss die Kränkung auf sich nehmen können, nicht alles zu verstehen“, sagt er dann.

Auch Menschen kann man züchten

Auch mit Orwells von ihm bearbeiteter „Animal Farm“ könnte es nicht leicht werden – und das, obwohl die 1945 als satirische Attacke auf den Stalinismus erschienene Tierfabel ihre Genialität gerade aus der Einfachheit bezieht: Die Schweine, Kühe, Katzen auf dem Hof von Mr. Jones befreien sich von ihrem grausamen Joch und gründen eine Gesellschaft der Gleichen und Gerechten, die alsbald wieder zur Gesellschaft der Ungleichen und Ungerechten wird. Die Revolution bringt eine mit Euphemismen behängte Diktatur hervor, wie es sie zuvor noch nie gegeben hat – so weit Orwells „Animal Farm“, die der 51-jährige Ensslin als Theatermann einem radikalen Update unterzogen und mit dem an einen Sloterdijk-Essay erinnernden Zusatz „Theater im Menschenpark“ versehen hat.

Genau das macht die Sache etwas komplizierter. Ensslin denkt Orwell weiter und führt die zeitlose Fabel in die mitteleuropäische Gegenwart, deren letzte gescheiterte Revolution 1968 stattgefunden hat. Und er stellt nicht die Revolutionäre von einst auf die Bühne, sondern deren Enkel, die rekapitulierend auf die Zeit nach 68 zurückblicken. „Das linke Denken“, sagt Ensslin, „wurde in egalitären Kollektiven weitergetragen, in Druckereien, Fahrradläden, Zeitungsprojekten oder Künstlergruppen wie dem Agora-Theater“ – weshalb die Entstehungsgeschichte der Kompanie ebenso in seine Tier- und Menschenfarm einfließt wie die Frage, mit welchen Methoden man heute das Leben verbessern könnte: Mit einem Sturz des Systems? Oder mit der Optimierung des Menschen mittels Biochemie und Genetik?

Der Rote Stern ist geborsten

Für Ensslin ist die Sache halbwegs klar. In seiner im Oktober in Sankt Vith uraufgeführten „szenischen Collage voller historischer, philosophischer und popkultureller Referenzen“, wie es in einer hymnischen Kritik hieß, plädiert er gegen die biotechnische Spritze zur Menschenzucht – und für das Mikrofon als Symbol der Veränderung durch Sprache, Streit, Diskurs. „Es wäre ein performativer Widerspruch, das Stück zu inszenieren und sich nicht für Stimme und Medien stark zu machen“, sagt er und zeigt auf dem Bildschirm seines Smartphones das Inszenierungs-Logo, das ebenfalls mit dem Oppositionspaar von Spritze und Mikro arbeitet. In ihrer Form ähnlich, sind die beiden einander konträren Weltveränderungs-Werkzeuge grafisch in einen fünfzackigen Stern eingelassen, wie man ihn von der RAF kennt. Mit einem Unterschied: bei Ensslin ist der Rote-Armee-Stern so geborsten wie der Traum einer Revolution durch die Stadtguerilla.

Mit der RAF setzt sich der 1967 in Berlin geborene Ensslin schon seit Jahrzehnten auseinander. Als er sechs Monate alt war, verließ ihn seine Mutter Gudrun, weil sie Andreas Baader kennengelernt hatte. 1970 befreite sie diesen mit Waffengewalt aus der Haft: die Geburtsstunde der Terrorbande, deren Gründungsmitglieder sich 1977 in Stammheim das Leben nahmen. Aber nicht nur die Mutter von Felix Ensslin, auch sein Vater, der Schriftsteller Bernward Vesper, beging Selbstmord, 1971 in einer Hamburger Psychiatrie. Felix war da schon bei seinen Pflegeltern in Undingen auf der Schwäbischen Alb, wo er als zehnjähriger Bub beim Spielen in einer Kiesgrube auf einen Salzsäurebehälter fiel, der explodierte. Daher die Narben in seinem Gesicht – und von der markanten Familiengeschichte vermutlich das bohrende Interesse an den Mechanismen, die Revolutionen in den Sackgassen der Gewalt münden lassen.

Orwells „Farm der Tiere“ und ihre dramaturgisch raffinierte Erweiterung in den sloterdijkschen Menschenpark kommen da genau richtig. Aber Vorsicht: Die Kränkung, nicht alles zu verstehen, sollte man dabei als Zuschauer schon in Kauf nehmen.

Termin
„Animal Farm – Theater im Menschenpark“ ist am 20. und 21. Juni im Nord zu sehen, der Studio-Bühne des Stuttgarter Schauspielhauses.