Von Luz-Maria Linder
„Wohin ich immer reise, ich fahre nach Nirgendland“ lautete das Motto des lyrischen Lebensbildes, mit dem die Kulturgemeinschaft Fellbach den 50. Todestag der deutsch- jüdischen Lyrikerin Mascha Kaléko in der Fellbacher Stadtbücherei in Erinnerung rief. Mit großer Lebendigkeit und Tiefgang trug die vielfach ausgezeichnete Sprecherin Doris Wolters von ihr ausgewählte Gedichte vor, die sich zu einem Porträt der Dichterin fügten. Der renommierte Jazzpianist Andreas Erchinger begleitete das gesprochene Wort durch einfühlsame Melodien am Klavier. Eine Einführung in Mascha Kalékos bewegtes Leben steuerte Nikola Herweg bei, die am Deutschen Literaturarchiv Marbach für Exilliteratur zuständig ist.
Das lyrische Lebensbild mit Musik bildete den Auftakt zur Reihe „Jüdisch & Deutsch“, mit der die Kulturgemeinschaft Fellbach den Beitrag von Künstlerinnen und Künstlern deutsch-jüdischer Herkunft zum Kulturleben in Deutschland nachzeichnen möchte. Aktueller Hintergrund der Reihe ist, so die Vorsitzende Christa Linsenmaier-Wolf in ihrer Begrüßung, der weltweit zunehmende Antisemitismus seit dem Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023.
In der Weimarer Republik eroberte Mascha Kaléko mit ihrer „Großstadtlyrik“ die Herzen des Publikums im Sturm. Mit dem „Lyrischen Stenogrammheft“ von 1933 feierte sie ihren Durchbruch. Doch schon 1935 wurde sie mit Berufsverbot belegt. Mit ihrem zweiten Mann Chemjo Vinaver und ihrem Sohn emigrierte sie 1938 in die USA. 1959 betrat sie erstmals wieder deutschen Boden und feierte auf Lesereisen ein Comeback. Ihrem Mann zuliebe siedelte sie 1959 nach Jerusalem über, wo sie aber weder Freunde noch Anerkennung fand.
Ironisch, witzig, schlagfertig sind Mascha Kalékos Gedichte, hinter deren heiterer Oberfläche sich viel Tiefgang und Wehmut verbirgt. In Ihrer Poesie besingt die Dichterin mit dem unbestechlichen Blick die ganze Bandbreite menschlicher Erfahrung: Kindheit und Jugend, Liebesglück und Liebesleid, Alltagssorgen, Weltschmerz, Vergänglichkeit und Tod. Die Gedichte, mit denen die junge Frau zum Shooting-Star der Berliner Literaturszene avancierte, erzählen vom Alltag junger emanzipierter Frauen im Berlin der „goldenen Zwanziger Jahre“. „Großstadtliebe“ aus dem frühen „Lyrischen Stenogrammheft“ führt beispielsweise vor, wie die Liebe kommt und geht. Nach kurzer Liebelei im „Gewühl der Großstadtstraßen […] lässt mans einander durch die Reichspost wissen / per Stenographenschrift ein Wörtchen: aus!“
Melancholisch die „Verse für Zeitgenossen“, in denen Mascha Kaléko nach der Emigration in die USA über Verbannung und Heimatverlust reflektiert. In „Emigranten-Monolog“ und „Deutschland, ein Kindermärchen“ sieht sie sich in der Tradition Heinrich Heines. So wie der liberale jüdische Schriftsteller des Vormärz auch hatte sie einst „ein schönes Vaterland“, das aber der Sturm zerstob und die Nachtigallen verstummen ließ.
In ihre späten Gedichte mischen sich neben Bitterkeit und Resignation manchmal noch die munteren, selbstironischen Töne der Jugend. Im „Temporären Testament“ hören wir zum Beispiel, wie am Grab der Dichterin „Die strengen Richter [ihrer] wilden Jugend / Entdecken der Verstorbenen edle Tugend“.
Bis zum Schluss lauschte das Publikum aufmerksam der Darbietung. Und dankte den Interpreten mit warmen Applaus. Wieso die deutsch-jüdische Dichterin auch heute zu berühren vermag? Der zeitgenössische Schriftsteller Daniel Kehlmann hat es so auf den Punkt gebracht: „Mascha Kaléko, die un-deutscheste deutsche Dichterin, hat die elegantesten, traurig-heitersten Gedichte seit Heinrich Heine geschrieben. Was für ein Schatz an Form, Schönheit und weiser Melancholie!“
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