Ethnologischer Forschungsgegenstand oder Beute Habgieriger? Felwine Sarr berät Frankreich beim Umgang mit kolonialer Raubkunst, auch in Stuttgart plädiert der senegalesische Autor für eine neue Ethik des Respekts.

Stuttgart - Versuchen wir einmal uns vorzustellen, Leonardos „Mona Lisa“ hinge in Dakar, Rembrandts „Nachtwache“ in Nairobi und Caspar David Friedrichs „Eismeer“ in Daressalam. Wie wäre das? Seltsam. Aber nicht weniger seltsam als die Tatsache, dass sich das kulturelle Erbe Afrikas zu über achtzig Prozent auf europäische Museen verteilt. Statuen und Prunkwaffen, Schmuck, Alltagsgegenstände und sogar die Überreste Verstorbener wurden während der Kolonialzeit hunderttausendfach gestohlen, verschleppt und nach Norden verschifft. Teils unter dem Deckmantel ethnologischer Forschung, teils aus nackter Habgier. Doch im Unterschied zur Raubkunst der Nazis regt sich das schlechte historische Gewissen der ehemaligen kolonialen Besatzungsmächte nur langsam.

 

Zum bislang mutigsten Versuch einer tätigen Reue entschloss sich Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron. 2017 gab er eine große Untersuchung in Auftrag. Experten sollten die Rückgabe außereuropäischer Museumsstücke aus französischen Sammlungen prüfen. Der vor einigen Wochen veröffentlichte Abschlussbericht fordert unter anderem die Restitution aller Objekte, die vor 1960 durch militärischen Einsatz oder im Rahmen von wissenschaftlichen Exkursionen in öffentliche Sammlungen gelangt sind. Einer der beiden Hauptautoren dieses Papiers ist Felwine Sarr. Der senegalesische Musiker, Schriftsteller und Wirtschaftswissenschaftler gilt als einer der führenden Intellektuellen seines Landes. Im kommenden Mai wird er in Stuttgart das Festival „Membrane. Durchlässiges Denken. Literaturen in Afrika“ kuratieren.

Mit im Gepäck: Sarrs Buch „Afrotopia“

Bei einem Abend im Literaturhaus bestand nun schon einmal die Möglichkeit, Felwine Sarr und seinen postkolonialen Ansatz kennenzulernen. Mit im Gepäck hatte der 46-Jährige sein demnächst auf Deutsch erscheinendes Buch „Afrotopia“. In einer Mischung aus analytischen und poetischen Passagen entwirft der Langessay die Vision eines neuen Afrikas. Grundgedanke ist die Rückbesinnung des Kontinents auf seine historisch gewachsene Gemeinschaftspraxis, um den politischen und ökologischen Herausforderungen der Zukunft zu begegnen und Nachwirkungen der imperialen Epoche abzustreifen. Zugleich richtet er sich gegen den westlichen Automatismus, ehemalige Kolonien mit Unterentwicklung, Mangel und Armut in Verbindung zu bringen. Afrika, so Sarr, besitze ein hohes soziokulturelles Kapital. Schließlich entstanden die ältesten Formen menschlichen Zusammenlebens weder in Europa noch in Kleinasien, sondern in Afrika. Dessen traditionelle Dorfgemeinschaft sei der Ursprung von Grundwerten wie Würde des Einzelnen, Gastfreundschaft und Gemeinsinn. Deswegen habe Afrika auch das Potenzial, zum Modell für eine „zivilisatorische Wende“ des gesamten Planeten zu werden. Beschwörend spricht der Text etwa von den „Lektionen der Morgenröte“.

Während die vorgetragenen Auszüge mit ihren sprachgewaltigen Bildern durchaus ästhetischen Eindruck zu hinterlassen wussten, blieb das Ganze inhaltlich recht holzschnittartig. Zu oft versäumte Sarr die Gelegenheit, sein gesellschaftsutopisches Gedankengebäude mit anschaulichen Beispielen zu möblieren und für ein breites Publikum geistig bewohnbar zu machen.

Afrika als Vorbild für eine Ethik der Beziehungen

Dass die Thematik der kolonialen Raubkunst keine explizite Rolle an diesem Abend spielte, war etwas schade. Denn vor Kurzem erst machte diesbezüglich auch ein prominenter Fall aus Stuttgart Schlagzeilen: Das Linden-Museum gab die so genannte Witbooi-Bibel, ein Neues Testament aus dem Besitz des Freiheitskämpfers Henrik Witbooi, an Namibia zurück. Und Bénédicte Savoy, Sarrs Co-Autorin des Berichts zur kolonialen Raubkunst in Frankreich, ist hierzulande ebenfalls keine Unbekannte.

Die Berliner TU-Professorin gehörte zum Expertenbeirat des Humboldt Forums, bis sie das Gremium im Streit um die Provenienzforschung verließ. Dem Träger des geplanten Museums, der Stiftung Preußischer Kulturbesitz (SPK), warf die Kunsthistorikerin vor, die Sammlungen nicht konsequent genug nach Stücken mit fragwürdiger Herkunft zu durchforsten. Für einen Eklat sorgte insbesondere folgende Äußerung Savoys: „Ich will wissen, wie viel Blut von einem Kunstwerk tropft.“

Der Fall liegt zwar bereits eineinhalb Jahre zurück, doch nach Ansicht vieler Kritiker mauert die SPK bei dem Thema immer noch. Dass Frankreich jetzt voranschreitet und (nach Empfehlung von Sarr und Savoy) dem westafrikanischen Staat Benin 26 Artefakte zurückerstattet, setzt die Berliner weiter unter moralischen Zugzwang.

Wer sich das Sarr/Savoy-Papier genauer ansieht, liest dort etwa: „Offen von Rückgaben zu sprechen heißt, von Gerechtigkeit, von der Wiederherstellung eines Gleichgewichts, von Anerkennung, von Reparation zu sprechen, vor allem aber einen Weg zu eröffnen in Richtung neuer kultureller Kontakte, die auf einer neu gedachten […] Ethik der Beziehungen ruht.“ Ein Satz, der recht eindeutig Felwine Sarrs Handschrift trägt. Denn auch in „Afrotopia“ wird der Zukunftsdenker nicht müde die Ethik des gegenseitigen Austauschs und Respekts zu betonen. Hat sie doch nicht zuletzt einen gemeinschaftsstabilisierenden Effekt. Eine Rückgabe von Raubkunst wäre in Zeiten, in denen die westlichen Demokratien ihrerseits in ihren Grundwerten bedroht scheinen, nicht nur die überfällige Geste der Wiedergutmachung gegenüber Afrika. Es wäre auch ein Zeichen Europas an sich selbst.

Bericht

Der Bericht von Bénédicte Savoy und Felwine Sarr über Raubkunst in französischen Museen und die Vorschläge zur Rückgabe strittiger Objekte umfasst rund 240 Seiten. Sowohl das französische Original wie auch eine englische Übersetzung stehen kostenlos zum Download zur Verfügung. http://restitutionreport2018.com/

Buch

Felwine Sarr: Afrotopia. Matthes und Seitz, 176 Seiten. 20 Euro. Erscheint am 25. Januar

Festival

In Kooperation mit dem Institut français und der Akademie Schloss Solitude veranstaltet das Stuttgarter Literaturhaus vom 23.-26. Mai 2019 das Festival „Membrane“. Neben Sarr zeichnen die kenianische Schriftstellerin und Kulturvermittlerin Yvonne Adhiambo Owuor sowie die deutsche Journalistin Nadja Ofuatey-Alazard für das Programm verantwortlich. Im Sinne eines erweiterten Literaturbegriffs sollen dabei auch Fotografie und Bildsprachen einbezogen werden.