Im Literaturhaus in Stuttgart diskutierten der Schriftsteller Feridun Zaimoglu und der Soziologe Yasar Aydin über Migration und die große Lüge, mit der Deutschland lange gelebt hat – oder heute noch lebt?

Korrespondenten: Knut Krohn (kkr)

Stuttgart - Feridun Zaimoglu ist kein glatter Mensch. Er hat Ecken und Kanten, Brüche in der Biografie, er hat sich nie in die von der deutschen Mehrheitsgesellschaft vorgegebene Ordnung zwingen lassen. Aus seiner eigenen Sicht blickt der Schriftsteller auf die fast schon prototypische Lebensgeschichte eines türkischen Einwandererkindes zurück. Aber schon hier beginnt das Problem. „Wenn wir zurückblicken, beginnen wir zu lügen“, sagt Zaimoglu. Dieser Satz ist wohlformuliert und der Schriftsteller lächelt erwartungsvoll vom Podium herab in den vollbesetzen Saal im Stuttgarter Literaturhaus. Er weiß, dass sich jeder im Publikum in diesen Sekunden auf die Suche nach den eigenen Lügen macht: wo er sich gegen den Anpassungsdruck der Gesellschaft durchgesetzt und wo er vielleicht nachgegeben hat. Ob er eher ein „Wanderer zwischen den Kulturen“ geworden ist – so der Titel der Podiumsdiskussion – oder doch eher zur Spezies der „Ethno-Zombies“ gehört. Das ist die Bezeichnung, die Zaimoglu für jene Migranten parat hat, die in ihrer Integrationswut die eigene Identität verlieren.

 

Wissenschaftlicher Gegenpart

„Wir müssen uns loslösen von der Normativität“, erklärt dazu Yasar Aydin. „Man muss dem Individuum überlassen, aus welcher Kultur es schöpft.“ Er war der ideale, wissenschaftliche Gegenpart des eher erzählerisch mäandernden Schriftstellers. Der präzise formulierende Soziologe lehrt an der Universität Hamburg unter anderem zum Thema Zuwanderungspolitik.

Auf den ersten Blick gleichen sich die Geschichten Zaimoglus und Aydins. Beide sind als Kinder mit ihren türkischen Eltern nach Deutschland gekommen und haben in der neuen Heimat Karriere gemacht. Und doch sind diese Männer ein fast perfektes Beispiel für das, was Zaimoglu als „Einwanderungslüge“ bezeichnet. Sie sind nicht über einen Kamm zu scheren. Im Gegenteil, sie haben völlig verschiedene Charaktere, eine unterschiedliche Sozialisation und unterschiedliche Herangehensweisen an die Fragen, die sich ihnen stellen. Dennoch – oder gerade deshalb – kommen beide zum gemeinsamen Schluss: Die Entwicklung der Migration verlaufe nicht nach einem Einheitsschema, sei nicht linear – auch wenn die Mehrheitsgesellschaft das gerne so hätte. So ist der achte Themenabend in der Reihe „Bakis – Die Türkei im europäischen Dialog“ gegen den „formatierten“ Menschen gerichtet, der im Sinne der Integration in eine vorgegebene Ordnung gezwungen werden muss.

Jeder trägt viele Identitäten in sich

Auch die Wissenschaft habe in der Vergangenheit mit ihren Forschungen falsch gelegen, unterstreicht Aydin. „Lange wurde angenommen, man muss die eigene Kultur ablegen, wenn man sich integrieren will“, sagt er. „Heute aber ist klar, dass man sich nicht mehr entscheiden muss, woraus man seine eigene Identität zusammensetzt.“ Der Soziologe gibt zu bedenken, dass jeder Mensch sowieso viele Identitäten in sich trage. Er selbst habe die Rolle des Vaters, des Hamburgers, des Deutschen und auch des Europäers.

Diese sehr differenzierte Sicht auf die Dinge macht es für Aydin allerdings schwer zu definieren, wo seine eigene Heimat liegt. Das sei für ihn der Ort, wo er sich wohl fühle, die deutsche Sprache oder seine Freunde, erklärte der Soziologe. Zaimoglu beantwortet die Frage nach Heimat mit einem Wort: Norddeutschland. Er gibt zu, dass er mit solch einer kurzen Antwort in den Verdacht gerate, es sich zu einfach zu machen. Das sei aber nicht der Grund, die Erklärung sei eine ganz andere. Und dann formulierte Zaimoglu, dem laut eigenem Bekunden viele sein Deutschsein nicht zugestehen, einen dieser ironischen Sätze: „Deutsch sein ist eben gut. Das Gegenteil ist mir noch nicht bewiesen worden.“