Angela Merkel und ihre Partei feiern Helmut Kohl. Die Huldigung dient auch der Selbstvergewisserung. Der Altkanzler verpflichtet seine politischen Erben auf ein großes Ziel: die Zukunft eines friedlichen und vereinten Europas zu sichern.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Armin Käfer (kä)

Berlin - Es sind steinerne Bilder des Schmerzes, welche die Stimmung dieses Ortes prägen. Das Antlitz der Ohnmacht, der Niederlage in zweiundzwanzigfacher Ausfertigung: Über jeder Fensternische, jedem der Bögen, die sich zum Innenhof des barocken Zeughauses am Boulevard Unter den Linden öffnen, prangt der Kopf eines „Sterbenden Kriegers“ – Meisterwerke des preußischen Bildhauers Andreas Schlüter, nach dem der Ort auch benannt ist. Es ist das älteste Gebäude in der Mitte Berlins. Seit 1991 ist dort das Deutsche Historische Museum untergebracht. Ein historischer Platz also, in doppeltem Sinne, mithin die ideale Kulisse für die Würdigung einer historischen Figur.

 

Helmut Kohl wird im Rollstuhl hereingeschoben. Er verfolgt den knapp zweieinhalbstündigen Festakt aufrecht und beinahe unbewegt, beendet ihn aber mit anrührenden Dankesworten. In seiner versteinerten Miene, einer physiognomischen Landschaft, finden sich durchaus Züge, die an die Galerie der Schmerzensköpfe erinnern. Kohl ist von seinem Gebrechen gezeichnet. Dieser Berg von Mann erweckt den Eindruck, als sei in seinem Innersten etwas eingestürzt. Aber er hat den Erschütterungen widerstanden.

Das Glänzen seiner Blicke

Das spiegelt sich in seinen Augen. So war es am Dienstag, als er die Unionsfraktion besuchte, und ihm ein Empfang bereitet wurde, den langjährige Weggefährten mit den Worten „Liebe“ und „Verehrung“ umschreiben. Und auch an diesem Donnerstag verrät das Glänzen seiner Blicke, wie er den Moment genießt, die Wertschätzung der vielen Gäste, die Lobreden – die Rückkehr an den Schauplatz der Macht, der ohne sein Zutun noch immer weiter westwärts liegen würde: in der Provinzstadt Bonn.

Vor Schlüters Köpfen, die Niederlage und Ohnmacht symbolisieren, wird einem Denkmal der Macht gehuldigt, einem lebenden Monument. Seine Rehabilitierung nach der schmählichen Spendenaffäre hat schon vor Jahren begonnen, aber sie gipfelt in diesem Abend. Der Festakt ist dem „Kanzler der Einheit“ gewidmet, dem „Ehrenbürger Europas“, wie es auf der Einladung heißt.

Theo Waigel in der dritten Reihe

Vom eigentlichen Anlass ist dort nur im Kleingedruckten die Rede: Vor 30 Jahren hatte die Ära Kohl begonnen. Am 1. Oktober 1982 wurde er Kanzler. Die Anfänge wären kaum der Erinnerung wert. Kohl begann als eher mediokrer Kanzler. Er wäre längst vergessen, wenn der Eiserne Vorhang sich nicht geöffnet hätte. Und ausschließlich davon ist die Rede: von dem historischen Drama der Wiedervereinigung, in dem er eine Hauptrolle spielte.

„Terrori Host“ – in goldenen Lettern prangt diese kryptische Floskel über dem Hauptportal des Zeughauses, durch das die Ehrengäste drängen, um Kohl zu huldigen. Sie sind so zahlreich, dass selbst langjährige Weggefährten wie der frühere Finanzminister Theo Waigel nur in der dritten Reihe Platz finden. In der ersten Reihe sitzt Finanzminister Wolfgang Schäuble. Er hatte Kohl in vielen Funktionen gedient, galt zuletzt gar als Kronprinz, ohne je sein Nachfolger werden zu dürfen. Am Ende ist er auch an Kohls Hinterlassenschaften gescheitert, bitter enttäuscht vom einstigen Mentor. Sein Kommen ist vielleicht die schönste Überraschung für Kohl an diesem Abend. Es zeugt von Größe und von einer ganz persönlichen Aussöhnung. Schäuble ist aber weit entfernt von einer persönlichen Begegnung mit der Hauptfigur des Abends – und er verlässt den Festakt als einer der Ersten.

Misstöne gibt es nur draußen

Misstöne sind nur draußen zu vernehmen, aber selbst dort verhallen sie. Der frühere SPD-Vorsitzende Hans-Jochen Vogel fordert in einem Radiointerview, Kohl müsse die Namen seiner ominösen Geldgeber nennen, er dürfe sein persönliches Ehrverständnis nicht über Recht und Gesetz stellen. Doch das sind Schlachten von vorgestern, die bei diesem Ereignis allenfalls als unschöne Erinnerung präsent sind.

„Terrori Host“ – die kunstvoll verkürzte Inschrift von 1701 zeugt davon, dass dieses Bauwerk „zum Schrecken der Feinde“ errichtet worden sei. Schließlich war das Zeughaus nichts anderes als ein Waffenlager. Von Trotz, der aus dem Schriftzug spricht, kündet auch das Hochamt für Kohl. Er selbst wird ihn verspüren, indem er sich wieder wertgeschätzt und hofiert sieht. Und ein bisschen ist diese Huldigung auch eine Manifestation gegen alle Missgünstigen, Übelwollenden, politischen Gegner, an denen zu Kohls Zeiten nie ein Mangel herrschte, auch in den eigenen Reihen nicht.

Vor 30 Jahren bedeutete der Aufstieg Kohls an die Macht das Scheitern eines anderen Mannes, der heutzutage häufiger im Scheinwerferlicht steht, dem vielleicht mehr Wertschätzung gilt. Er gibt sich wie der große weise Häuptling der Republik – was Kohl ganz gewiss mächtig wurmt. Man darf es als Ironie der Geschichte, wenn nicht gar als perfide Inszenierung verstehen, dass ausgerechnet an diesem Abend als Kontrastprogramm im Fernsehen eine Talkshow läuft, in der Helmut Schmidt im Zwiegespräch mit dem Bundespräsidenten der TV-Nation die Welt erklärt.

Er ist wieder ein Idol

Wenigstens für die Seinen ist Kohl wieder ein Idol. Das Hochamt für den Altkanzler wird zu einer großen Show, eine Ehrerbietung von geradezu royalem Gepräge. Grußadressen von Staatsmännern aus aller Welt werden eingeblendet, bewegende Worte, viele Superlative, Diplomatie in ihrer zuvorkommendsten Spielart – auch wenn manches nach verfrühten Nachrufen klingt. Die Bundeskanzlerin, die ihren Ziehvater einst als CDU-Ehrenvorsitzenden vom Sockel gestürzt hat, ist klug genug zu wissen, dass der Kult um Kohl der eigenen Partei nur nutzen kann – und auch ihr selbst. Mit der Laudatio – nach ihren Worten einer „Verbeugung vor dem Lebenswerk“ – reiht sie sich ein in die Traditionslinie, die bei Adenauer beginnt, bei Kohl aber nicht endet, auch wenn sie das nicht wörtlich sagt. Aber vieles, was sie sagt, soll andeuten, dass sie sich seinem Lebenswerk, seinem Erbe verpflichtet fühlt. Wie weit sie sich von Kohl emanzipiert hat, illustriert eine kesse Zwischenbemerkung, die an wenig schmeichelhafte Worte aus dem Munde von Franz Josef Strauß erinnern.

Kohl lässt es sich nicht nehmen, seinen vielen Gästen selbst zu danken. Er spricht schleppend, schwer verständlich, aber aus dem Stegreif. Er hat den Abend ihm zu Ehren als „menschlich sehr bewegend“ erlebt. Und er bedankt sich schelmisch auch bei allen, die ihn provoziert und herausgefordert hätten. Die an diesem Abend viel zitierte „Ära Kohl“ nennt er selbst „eine fantastische Zeit“. Und er verpflichtet alle auf ein „großes Ziel“: Es gelte, das friedliche Europa weiterzuentwickeln.