Der designierte Chefdirigent der Berliner Philharmoniker, Kirill Petrenko, dirigiert „Siegfried“ und „Götterdämmerung“ bei den Richard-Wagner-Festspielen – und reißt die Bayreuthianer von den Sitzen.

Bayreuth - Kann ein Tag im Juni alles ändern – oder lässt er nur Ansprüche, Erwartungen steigen, steuert er die Wahrnehmung, vielleicht gar unbotmäßig? Am 21. Juni wählten die Berliner Philharmoniker überraschend Kirill Petrenko zu ihrem Chefdirigenten von 2018 an. Noch überraschender: der Skrupulöse, sich rar Machende akzeptierte. Und nun dirigiert er fünf Wochen danach in Bayreuth im dritten Jahr den „Ring des Nibelungen“, und jeder hört genauer hin, nicht nur, weil Petrenko die Tetralogie in diesem Jahr letztmals hier leitet. Ursprünglich sollte er auch 2016 am Pult stehen, als Chefdirigent der Staatsoper München möchte er sich jedoch mehr auf sein Haus konzentrieren. Also wollen jetzt alle keinen handelsüblichen Kapellmeister erleben, sondern eine Legende in spe, den designierten Erben von Nikisch, Furtwängler und Karajan.

 

Und dann das. Trotz aufmerksamer Sachwaltung im vom Auditorium uneinsehbaren Graben schleppen sich die ersten beiden „Siegfried“-Akte hin. Das hat zwar Kraft, aber kein Feuer; ja, beim Waldweben flirren die Streicher, und die Holzbläser schlüpfen ins Fiedergewand der Laubbewohner, doch wo bleibt die herzerwärmende Poesie? Das Solo-Horn patzt, kann passieren, aber hier scheint es eher aufs Konto von Unterspannung als von Premierennervosität zu gehen. Weite Bögen, der Wagner-Sog, die Alberich-Nacht-Schwärze, kecke Siegfried-Pubertät, Wotan-Ironie beim Aushorchen von Mime – all das, was vorm inneren Ohr klingt, wenn man durch die Partitur blättert, bleibt Bleistiftskizze statt fette Tinte.

Mit einem Mal aber, als sei in der Pause zum dritten Akt beim zarten Maestro aus Omsk ein Knopf aufgegangen, wirkt vom ersten Bassgerumpel des Vorspiels an vieles belebt, plastisch, dramatisch zupackend. Da hebt sich die Brust, geht der Atem. Kirill Petrenko, der, wie er sagt, an keinem geografischen Ort mehr Heimat spürt, sondern nur noch – „auch wenn’s pathetisch klingt“ – in der Musik, scheint nun an die Szene anzudocken. Es ist die immer noch umstrittene und am Ende heftig ausgebuhte Setzung des Berliner Volksbühnenkommissars Frank Castorf und des Bühnenzauberers Aleksandar Denic mit Alexanderplatz und Wall Street, Berliner Mauer und Döner-Bude auf der Drehbühne: Das ist monumental und zerlumpt, schrecklich und groß, fahrig und genau, auch zündend, wenn nämlich der Videozoom en detail zeigt, was en gros unterzugehen droht.

Die Nornenszene wird spannend, was sie oft nicht ist

Die erste Szene des dritten Akts zum Beispiel, diese hinreißend komisch-verzweiflungsvolle Szene zwischen Wotan und Erda, er dauerrauchend, saufend, taumelnd, sie nuttig-muttig-ärgerlich, beide Spaghetti futternd, von den Kameras in Großaufnahme bis in den Herzausschnitt erfasst. Ein seltener Moment, in der die Parallelen von Szene und Ton in Frank Castorfs die Komposition ignorierender Regie sich im Diesseits der Unendlichkeit berühren. Es ist zum Weinen und zum Lachen. Wie anders – den Gag verschenkt Castorf nicht –, wenn Erda zu Wotans „Hinab den, Erda! Urmütterfurcht!“ zum Blow-Job vor ihm auf die Knie geht, gleichzeitig der Kellner (dauerpräsent: Patric Seibert) die Rechnung präsentiert.

An diesen Zug knüpft Petrenko in der „Götterdämmerung“ an, als kenne er Wilhelm Furtwänglers Satz über Wagner: „Niemals gibt es hier Abschnitte, Risse, alles ist fließender Übergang“. Mit dem ersten aktiv gehaltenen, auf Folgendes zielenden Bläserakkord im Vorspiel erfolgt so eine Belebtheit, die kurzweilig wirkt. Die Nornenszene wird spannend, was sie oft nicht ist, durch die motivischen und klangfarblichen Details. Und doch vermisst man bei Petrenko etwas in den orchestral bedeutungsvollen Momenten, weniger in Illustrationsmusiken wie der „Rheinfahrt“, aber entscheidend im Trauermarsch, vor allem im recht zügig genommenen Finale, das in den Schlusstakten ohne Erlösungsverbreiterung genommen wird. Fehlt hier nicht die durch die szenische Relevanz durchpulste Körperlichkeit des Orchestralen, die den Hörer all die präzise gestalteten Parameter wie Takt, Motiv, Lautstärkegrade nicht mehr wahrnehmen lässt, sondern allein das klangliche Ereignis in den Vordergrund rückt, das mit dem Wort Transzendenz unzureichend bezeichnet ist?

Gutrune gellt, Brünnhilde bleibt mechanisch

Gleichwohl und zurecht wird Kirill Petrenko zum Helden, der die Bayreuthianer von den Sitzen reißt. Ansonsten bleibt ein Katalog von Sänger-Grausamkeiten festzuhalten: ein Mime (Andreas Conrad), dessen schriller Sprechgesang aus den schlimmsten Tagen schlechten Wagnergesangs stammt; ein abgesungener, textunverständlicher Alberich, der Probleme mit der Höhe, der Mitte und der Tiefe hat (Albert Dohmen), eine gellende Gutrune (Allison Oakes), ein Gunther mit gepresstem Bariton (Alejandro Marco-Buhrmester) und eine Brünnhilde (Catherine Foster), die unbeteiligt mechanisch ihre Töne abliefert, dabei oft zu tief singt. Foster steigert sich kaum in der „Götterdämmerung“ – wie auch, da bei ihr der Text völlig nebensächlich ist. Er wird krude der Tonemission untergeordnet: „Zu noin Toaten“. Richard Wagner nannte so etwas abschätzig „Stimmtonschwelgen“.

Zu neuen Taten sollte sich die Festspielleitung bei den Besetzungen wahrlich aufmachen. Eine erste Maßnahme war die Absetzung von Lance Ryan als Siegfried. Ihm gegenüber ist der Bayreuth-Debütant Stefan Vinke ein Fortschritt, kein wirklicher Gewinn: zu unausgeglichen die Vokalisation, Inwendiges steht neben Grobem, und als junger Siegfried kommt er im Finale an seine Grenzen, wird er ungenau, singt sich fest. Als Typ passt er bestens in die Inszenierung, ist spielfreudig, wendig. Seinen hier einsamen Tod singt er tatsächlich mit aufgehelltem Ton, leicht und beinahe ergreifend: „Ach! Dieses Auge ewig nun offen !“

Zur Habenseite zählt Wolfgang Koch als Wotan, der im dritten „Siegfried“-Akt mit seiner eher baritonalen Farbe freier wirkt als in der sämigere vokale Qualitäten fordernden Rätselszene im ersten Akt. Ordentlich Claudia Mahnke als Waltraute, die wenigstens die Affekte der Partie erfasst, auch wenn es an die Grenzen ihrer stimmlichen Möglichkeiten geht. Ein Lichtblick die Rheintöchter sowie alle überragend Stephen Milling als Hagen, der einzige, der Wagners vielfach schriftlich festgehaltenen Intentionen als Singdarsteller gerecht wurde, ohne Kredit an der Substanz seiner ebenmäßigen Bassstimme aufnehmen zu müssen. Nimmt man Wagners Ansprüche beim Wort, dann ist Bayreuth kaum mehr der Ort, wo die Sänger zu finden sind, die seine Forderung erfüllen: „Die höchste Reinheit des Tons, die höchste Präzision und Rundung, die höchste Glätte der Passagen, wie die höchste Reinheit de Aussprache bilden das Fundament für den Gesangsvortrag. Was kann der Affekt hervorbringen, wenn er die organischen Möglichkeiten überschreitet?“ Wo der Meister recht hat, hat er recht.