Matthias Erzberger wurde vor 100 Jahren von Rechtsextremisten ermordet. Der Reichsminister war in jungen Jahren in Feuerbach und Stuttgart-Mitte aktiv.

S-Feuerbach - Die Spurensuche nach einem der mutigsten und klügsten politischen Köpfe des ausgehenden Kaiserreichs und der jungen Weimarer Republik beginnt in Feuerbach vor dem roten Backstein-Gebäude Elsenhansstraße 9. Dort erinnern an der Fassade zwei Tafeln an Matthias Erzberger. Die größere ist vom Bürgerverein Feuerbach. Dem Historiker und früheren CDU-Bezirksbeirat Joachim Arendt ist es zu verdanken, dass diese zugegebenermaßen kurze Feuerbacher Lebensphase eines wichtigen „Wegbereiters der deutschen Demokratie“ nicht in Vergessenheit gerät.

 

Hinter der kleinen Mauer und den wuchernden Büschen ist das kleine Porträt-Bild von Erzberger auf der goldenen Tafel nur schwer zu erkennen. Es zeigt den Schneider-Sohn aus Buttenhausen von der Schwäbischen Alb. Darüber steht: „Vom Februar bis September 1896 unterrichtete hier als Schulamtsverweser der schwäbische Katholik und spätere Zentrums-Politiker und Reichsminister Matthias Erzberger.“ Heute werden hier Kita-Gruppen des katholischen Kindergartens der Gemeinde St. Josef betreut. Früher befand sich auf diesem Grundstück die freiwillige Konfessionsschule der katholischen Kirchengemeinde Feuerbach – die spätere Brühlschule. Darin hat Erzberger als Volksschullehrer ein knappes dreiviertel Jahr lang unterrichtet.

Mit 20 Jahren Junglehrer in Feuerbach

Es ist davon auszugehen, dass ihm in den Feuerbacher Klassenzimmern eher Schüler aus der Arbeiterschicht gegenübersaßen. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erlebte Feuerbach im Zuge der Industrialisierung einen starken Zuzug. Von 1861 bis 1910 stieg die Zahl der Einwohner im Ort von 2874 auf 14 244 Personen. Es gab viele Verlierer. „In den Betrieben herrschten harte Arbeitsbedingungen bei täglich bis zu zehn Arbeitsstunden an sechs Wochentagen. Auch viele Frauen und selbst ältere Kinder wurden in den Betrieben beschäftigt. Die Zeitungen berichten von schweren Betriebsunfällen“, schreibt Autor Jörg Kurz in seinem historischen Feuerbach-Buch. Profiteure waren Unternehmer, die beste Bedingungen vorfanden. 1913 wurden 128 Firmen gezählt.

Die erste katholische Kirche wird im protestantisch geprägten Feuerbach 1895 an der Oswald-Hesse-Straße gebaut. Daneben entsteht eine Konfessionsschule. Am 5. Februar 1896 beginnt Erzberger als 20-jähriger Junglehrer in der aufstrebenden katholischen Gemeinde mit dem Unterrichten. Er erlebt hier wie bei seiner ersten Anstellung als Hilfslehrer in Göppingen eine ähnliche Situation. Neben der pädagogischen Arbeit und dem Unterricht hilft er beim Aufbau der neuen Kirchengemeinde mit. Er unterstützt und berät katholische Arbeiter und Gemeindemitglieder bei Fragen der Krankenversicherung, bei Auseinandersetzungen in Betrieben und anderen Problemen. Gleichzeitig wirbt er dafür, sich in katholischen Arbeitervereinen zu organisieren.

Erzbergers Karriere wird mit Argwohn verfolgt

Die „Schwertgosch“ Erzberger legt sich aber auch auf öffentlichen Veranstaltungen mit Sozialisten und Linksliberalen an. Er selbst steht der erst kürzlich in Württemberg neu gegründeten katholischen Zentrumspartei nahe. Sein Talent als Debattierer und Redner bleibt in der Szene nicht unentdeckt. Der Chefredakteur des Deutschen Volksblattes bietet ihm eine Stelle an. Erzberger hängt seinen Lehrerjob nach neun Monaten an den Nagel und startet als 21-jähriger Volontär in der Redaktion des Stuttgarter Deutschen Volksblattes durch. Chefredakteur Joseph Eckard ist begeistert. „Da habe ich ja ein politisches Genie entdeckt“, schwärmt sein Mentor und Entdecker.

Sich in der Diaspora gegen massive Widerstände durchzusetzen, scheint Erzberger zu beflügeln. Aber die katholische Tageszeitung ist letztendlich auch wieder nur ein Sprungbrett für höhere Aufgaben: „Das Deutsche Volksblatt war damals das Organ des Württembergischen Katholizismus und Sprachrohr der katholischen Zentrumspartei. Die Redaktionsräume befanden sich in der Urbanstraße. Chefredakteur Eckard hat Erzberger an die Hand genommen. Unter seiner Anleitung entwickelte er sich zu einem wichtigen Multifunktionär im entstehenden katholischen Vereinswesen Württembergs“, berichtet der Historiker Christopher Dowe vom Haus der Geschichte.

Im Mai 1897 wird Erzberger katholischer Arbeitersekretär. Er ist ein Arbeitstier, fleißig, tatkräftig und blitzgescheit. Er reist herum, hält Vorträge. 1903 wird er mit 28 Jahren als jüngster Abgeordneter in den Reichstag gewählt. Spätestens jetzt wird er zu dem, was die Briten ein „Political Animal“ bezeichnen, sagt der Erzberger-Kenner Christoph E. Palmer. Der frühere Minister im Staatsministerium und CDU-Landtagsabgeordnete betont, dass Erzberger in der Wahl seiner Mittel nicht zimperlich gewesen sei. Eben ein politischer Berserker, aber auch ein Mann aus dem einfachen Volk, dessen steile Karriere von den Vertretern des wilhelminischen Obrigkeitsstaates mit Argwohn betrachtet wird: „Er war in seiner Art für die damaligen Eliten unwahrscheinlich provokativ“, so Palmer. Aber Erzberger hielt später als führender katholischer Zentrums-Politiker, Finanzminister und Vizekanzler den steten Kontakt zur SPD und den Liberalen. Am 19. Juli 1917 beschloss das Parlament mit einer Mehrheit aus Zentrum, linksliberaler Fortschrittlicher Volkspartei und SPD einen „Frieden der Verständigung“ mit Frankreich anzustreben.

376 politische Morde in nur drei Jahren

Doch die innenpolitischen Gegner der Weimarer Republik hatten schon die Büchsen gespannt. Spätestens ein Jahr später gaben sie Erzberger, der 1918 das für Deutschland harte Waffenstillstandsabkommen unterzeichnet hat, zum Abschuss frei. Er war im Visier antidemokratischer Kräfte und ihrer publizistischen Hasskampagnen geraten: „Die Kugel, die mich treffen soll, ist schon gegossen“, soll Erzberger einige Monate vor seinem Tod gesagt haben. Er behielt recht. Am 26. August 1921 erschossen ihn zwei Mitglieder der rechtsextremen terroristischen Vereinigung „Organisation Consul“ im Schwarzwald.

Es war nicht der letzte von 376 politischen Morden zwischen Januar 1919 und Juni 1922. Allein 354 dieser Bluttaten gingen auf das Konto von Rechtsradikalen. Für Kämpfer der Demokratie, wie Erzberger, wurde die Luft zum Atmen dünn und dünner. Und die Weimarer Republik marschierte stramm in Richtung Terror und Diktatur.

Der Historiker Christopher Dowe, der auch eine Biografie über Matthias Erzberger veröffentlicht hat, wird voraussichtlich am Dienstag, 23. November, nach einer Bezirksbeiratssitzung im Bezirksrathaus Feuerbach einen Vortrag über den Zentrumspolitiker halten.