Verkehrsprobleme hatten die Bewohner der Filder vor 100 Jahren noch keine; dazu gab es zu wenige Autos. Dafür hatten sie aber Angst vor hungernden Stuttgartern. Auf der Spur des Lebensgefühls der 20er Jahre.

Filderstadt - Was war das für ein Lebensgefühl, damals vor fast 100 Jahren? Der Erste Weltkrieg war gerade zu Ende gegangen. Die Menschen schöpften wieder Hoffnung und wollten Versäumtes aus den Kriegsjahren einfach nachholen: „In den20er Jahren sind ganz viele Vereine gegründet worden“, erzählt Stadtarchivar Nikolaus Back. „Und es wurde viel gefeiert.“ Nachvollziehen kann das der Historiker, der seine Magisterarbeit über die 20er Jahre auf den Fildern geschrieben hat, weil die Vereine damals im Filder-Boten inserierten, dem Vorläufer der heutigen Filder-Zeitung: „Jedes Wochenende gab es Feste, Umzüge oder Faschingsfeiern“, sagt Back.

 

Und Tanzveranstaltungen: Ein Zeugnis davon steht derzeit im Filder-Stadt-Museum. Es ist ein Grammophon samt Schallplatte. Daneben hängt eine Kopie einer Anzeige aus dem Filder-Boten: „Achtung! Achtung! Tanzlustige treffen sich am Sonntag, 22. November in Plattenhardt im Saalbau Krone bei der erstklassig besetzten Orig.-Jazzband-Kapelle“, steht da in alter, verschnörkelter Schrift. „Wenn mal keine Kapelle da war, dann kam sicher das Grammophon zum Einsatz“, sagt Back. Das Gerät war wohl laut genug, um einen ganzen Saal damit zu beschallen. Die „Roaring Twenties“ lassen auch auf den Fildern grüßen.

In dem Turbojahrzehnt änderte sich vieles rasant

Die Lebenswirklichkeit in diesem Turbojahrzehnt änderte sich für viele rasant. Böblinger Flugzeuge – damals war der Flughafen noch dort angesiedelt – überflogen die Filder, noch gab es nur wenige Autos und einige Motorräder. „Das Radfahren war für den Individualverkehr ungemein wichtig“, sagt Back. Denn das Zweirad war für viele noch erschwinglich. In den heutigen Stadtteilen von Filderstadt wurden in den 20er Jahren fünf Radfahrvereine ins Leben gerufen. Erste Busunternehmen wie Briem und Stauch wurden gegründet, um die Arbeiter von A nach B zu bringen. Auch die Straßen änderten sich. Statt Pflastersteinen kam immer mehr der Asphalt zum Tragen.

Der Fortschritt und die Veränderungen machten auch vor den Haushalten nicht halt: Lauter technische Errungenschaften drängten etwa in die Küche und andere Lebensbereiche der 20er Jahre: Toaster, elektrische Bügeleisen, Staubsauger und Gasherde. „Ab 1926 kam die Versorgung mit Gas auf den Fildern an“, sagt der Stadtarchivar. Die Gaswerke Stuttgart hatten Überkapazitäten, die sie an die Nachbargemeinden weitergeben wollten.

Waschkugel als Innovation

So kam das Gas auch in den Küchen in Sielmingen, Harthausen, Plattenhardt, Bonlanden und Bernhausen an. In der Ausstellung im Filder-Stadt-Museum sind die Geräte präsent – darunter auch genau solch ein Gasherd mit zwei Kochstellen aus der damaligen Zeit und eine Waschkugel aus Kupfer. Die stammt zwar genauso wie die ausgestellten Toaster – so erklärt es Nikolaus Back – nicht von den Fildern, ist aber ein beeindruckendes Gerät. Damals musste man erst die Wäsche und das schon heiße Wasser einfüllen und den Deckel schließen. Angetrieben von einem Motor drehte sich schließlich diese Kugel. Schleudern mussten die Menschen damals noch von Hand.

Zum Lebensgefühl auf den Fildern kurz nach dem Ersten Weltkrieg gehörte aber auch Angst. Davon zeugt eine Munitionskiste einer Einwohnerwehr aus Bernhausen aus dem Jahr 1919. Damals gab es Gerüchte, dass hungernde Arbeiter aus Stuttgart bewaffnet auf die Filder kommen würden, um sich Lebensmittel zu beschaffen. Darauf gründeten die Bürger 1919 eine Einwohnerwehr, die sich mit Gewehren aus dem Ersten Weltkrieg bewaffneten. Einen Überfall von Stuttgartern gab es aber nie.

Ausstellung:

Die Sonderausstellung „Die Zwanziger Jahre auf den Fildern“ ist bis 11. November zu sehen. Geöffnet ist das Filder-Stadt-Museum sonntags von 13 bis 17 Uhr. In den Sommerferien bleibt das Museum in Bonlanden, Klingenstraße 19, geschlossen.