Nominiert für Deutschen Filmpreis „Elaha“: Einmal Jungfrau und zurück

Ein kleines Stück Freiheit im Wald: Elaha (Bayan Layla) geht mit Yusuf (Slavko Popadic) spazieren. Foto: Verleih cf

Er dürfte der Underdog beim diesjährigen Deutschen Filmpreis sein. „Elaha“, ein Film über Jungfräulichkeit, Selbstbestimmung und Freiheit einer jungen Frau aus einer kurdischen Gemeinschaft. Was die Regisseurin Milena Aboyan zu dem Film bewogen hat, erzählt sie im Gespräch.

Kultur: Kathrin Waldow (kaw)

Kurz vor ihrer Hochzeit will sich Elaha heimlich einem medizinischen Eingriff unterziehen. Es geht um eine Hymenrekonstruktion, dabei wird ein sogenanntes Jungfernhäutchen, ein elastischer Hautring, unter ärztlicher Betäubung aus vorhandener Haut um die Vagina geformt. Elaha versucht, das Geld für die Behandlung aufzutreiben. Die Last, unter der sie in der kurzen Zeit vor der Hochzeit steht, scheint sie zu erdrücken. Niemand darf etwas von ihrem Vorhaben erfahren. Ein zerreibender innerer Kampf zwischen kultureller Prägung, Herkunft, Familie, Tradition, Liebe, Selbstbestimmung und Freiheit entspinnt sich. Unterstützt wird sie von ihrer Mentorin aus einem Weiterbildungskurs. Zu ihrer eigenen Sexualität und Lust findet Elaha ganz im Verborgenen. Nichtsdestotrotz führt ihr Kampf Elaha (überzeugend: Bayan Layla) bis an ihre Grenzen und in die Notaufnahme.

 

Kein Sex vor der Ehe für Frauen

Vieles von dem, was im Film angesprochen und gezeigt wird, sind Tabuthemen in manchen Kulturen, in denen Frauen vor der Ehe keinen Sex haben dürfen, ansonsten als unrein gelten. Wie die kurdische Gemeinschaft in Deutschland, in der Elaha lebt. Es wird kurdisch gesprochen; Traditionen, Werte und allerlei Gerüchte werden geteilt. Das Sprichwort: „Der Schaden, der die Herde trifft, ist eine Schande für den Hirten“ ist das Lebens-Motto ihrer Familie. Auf die Frage ihrer Tochter, was wäre, wenn sie „ihre Ehre“ nicht mehr zwischen den Beinen trüge, antwortet Elahas Mutter: „Dann wäre es mir lieber, du wärst tot“.

Mehr soziokulturelle Zuschreibung als anatomische Realität

„Elaha“ ist ein bemerkenswerter Film. Und wahrscheinlich der Underdog bei der Verleihung des diesjährigen Deutschen Filmpreises am 3. Mai. Gleich zwei Mal ist „Elaha“ nominiert und konkurriert als Bester Spielfilm mit fünf anderen („Der Fuchs“ , „Die Theorie von allem“, „Ein ganzes Leben“, „Im toten Winkel“, „Sterben“) um die Trophäe. In der Kategorie Beste weibliche Hauptrolle ist die junge, syrische Schauspielerin Bayan Layla neben den Schauspielgrößen Corinna Harfouch und Hanna Herzsprung nominiert. Vor allem die Unerschrockenheit und der Mut sowie die packende Erzählweise, die Filmemacherin Milena Aboyan bei ihrem Abschlussfilm bewiesen hat, dürften zu den verschiedenen Nominierungen geführt haben.

Milena Aboyan (links) und Bayan Layla. Foto: www.imago-images.de/IMAGO/Alexander Gonschior

„Elaha“ ist Aboyans erster Film. Das Thema Jungfräulichkeit habe sie seit ihrer Jugend beschäftigt, sagt die Autorin. „Ich habe mich immer gefragt, was bedeutet Jungfräulichkeit eigentlich? Und ob das nur ein Phänomen meiner Community ist?“ Milena Aboyan ist jesidische Kurdin aus Armenien und kam mit acht Jahren nach Deutschland. Sie bezeichnet sich als typisches Arbeiterkind. Nach dem Abitur hat sie eine Schauspielausbildung gemacht, später Drehbuch und Regie an der Filmakademie Baden-Württemberg in Ludwigsburg studiert. Heute lebt und arbeitet die 32-Jährige in Hamburg.

„Bei meinen Recherchen habe ich festgestellt, dass das nicht nur ein Phänomen meiner Community ist; dass selbst in abendländlicher Literatur, Malerei, Film und auch anderen Kulturen Frauen als wertvoller gelten, wenn sie ihre Sexualität nicht ausleben. Da kommen wir schnell zum Patriarchat und zu heiligen Zuschreibungen wie der Madonna. Es war bei uns natürlich verpönt, darüber zu sprechen. Wir wussten nur, dass es etwas ganz Schlimmes ist, wenn man vor der Ehe als Frau etwas mit einem Mann hat“, erzählt sie offen. Beim Aufwachsen in einem Ort in Mittelhessen sei das Thema stets präsent gewesen. „Obwohl meine Freundinnen und ich alle aus verschiedenen Kulturen kamen, unterschiedlich sozialisiert wurden, hat das Thema uns damals sehr beschäftigt. In dem Ort, in dem ich damals mit meiner Familie lebte, gab es auch einen Arzt, der diese Hymenrekonstruktionen vornahm. Das war ein offenes Geheimnis.“

An der Filmakademie war die Zeit gekommen, dem Thema auf den Grund zu gehen, sagt die engagierte Regisseurin. „Ich habe natürlich viel zur ‚Jungfräulichkeit’ recherchiert und auch mit Ärzten gesprochen. Ich selbst habe vieles nicht gewusst und mir im Zuge der Recherchen Wissen angeeignet. Nicht alle Frauen bluten beim ersten Mal. Es gibt kein ‚Jungfernhäutchen’, das die Vagina umschließt, es ist viel mehr ein feiner Gewebekranz, der die Vaginalöffnung umrandet. Es gibt auch viele Frauen, die von Geburt an keinen Gewebekranz besitzen. Also ganz viele Fakten, die wir auch in den Film gepackt haben, die die Protagonistin schrittweise erfährt. Wir wollten innerhalb der Dramaturgie Aufklärungsarbeit leisten.“ Aufklärung, Sichtbarkeit und Repräsentation sind ihre Ziele. Unterhaltung? Das sollen andere machen, sagt Milena Aboyan. Dennoch fesselt „Elaha“ bis zum Schluss.

Verschiedenen Lebenswirklichkeiten Sichtbarkeit verschaffen

Weibliche Lust und Sexualität aus sehr traditionellen Gemeinschaften zum Thema zu machen, war für Milena Aboyan nicht leicht. „Ich hatte Angst, den Film so zu erzählen, weil ich erwartet hatte, dass meine Community vielleicht sagen könnte, schon wieder dieses Narrativ der armen migrantischen Frauen, die unterdrückt werden. Das ist zum Glück nicht eingetreten. Ich denke auch, dass es daran liegt, dass wir die Schönheit der Kultur in den Vordergrund gestellt haben. Wir wollten keine Opfergeschichte erzählen.“ Ihre Protagonistin bringt es auf den Punkt: „Ich liebe meine Familie, ich liebe meine Kultur, ich bin nur manchmal nicht mit den Regeln einverstanden.“

Auch die Regeln im Filmgeschäft sind nicht ohne. Das Budget war knapp. Ohne Hilfe des SWR, Arte und Fördergelder wäre „Elaha“ nicht realisiert worden. Trotzdem hätten die meisten Beteiligten mehrere Jahre lang unentgeltlich an dem Film gearbeitet. Mühen, die sich lohnen; erst recht, wenn dann noch ein Deutscher Filmpreis winkt. Doch Aboyan betont: „Sichtbarkeit ist das Wichtigste. Ich habe nach meinem Schauspielabschluss gemerkt, dass da niemand auf mich wartet. Ich habe keine Rollenangebote bekommen, außer eines als kopftuchtragende Reinigungskraft. Dann habe ich mir gedacht, vielleicht fehlen die Geschichten für Menschen wie mich und so bin ich zum Drehbuchstudium gekommen.“

Menschen mit Migrationshintergrund, Beeinträchtigungen, Frauen auch über 40, Schwangere würden viel zu wenig selbstverständlich im Film gezeigt. Das will sie ändern. „Repräsentation ist wichtig. Wenn ich als jesidische Kurdin Filme mache, kann ich vielleicht auch Vorbild sein für Frauen und Mädchen aus meiner Community. Mein Schlüsselmoment war ‚Gegen die Wand’ von Fatih Akin. Da dachte ich mir, lasst uns mehr Filme machen und von Lebensrealitäten der Menschen erzählen, die seit Jahrzehnten hier leben, aber in Film und Fernsehen nach wie vor unterrepräsentiert sind.“

Der Erfolg gibt ihr recht. Ein Erfolg, der vor allem in berührten Gesichtern und einem bewegten Publikum sichtbar wird. Die Daumen für den Deutschen Filmpreis darf man trotzdem drücken.

Über die Filmemacherin

Zur Person
Milena Aboyan hat Drehbuch und Regie studiert. Vor ihrem Abschluss an der Filmakademie Baden-Württemberg hat sie Schauspiel in Kassel studiert und ist ebenfalls staatlich anerkannte Schauspielerin. Die 32-Jährige lebt heute in Hamburg.

Inhalt
Das Drehbuch zu „Elaha“ hat sie gemeinsam mit Constantin Hatz geschrieben. „Elaha“ wird seit der Veröffentlichung im vergangenen November an Schulen gezeigt und dient dort als Diskussionsgrundlage.

Preis Die „Lolas“, der Deutsche Filmpreis, wird am 3. Mai in Berlin verliehen. Die Gala ist live in der ARD Mediathek zu verfolgen.

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